AG DOK - Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V.
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Spezial
AG DOK diskutiert bei DOK Leipzig über den Umgang mit Archivmaterial
vom 11.11.2014
Hoffnungsschimmer in dunklen Zeiten
Während unser Nachbarland Frankreich 400 Millionen Euro zur Rettung seines Filmerbes bereitstellt, sind es in Deutschland gerade einmal zwei Millionen im Jahr – und selbst das ist in den anstehenden Beratungen des Bundeshaushalts noch nicht sicher. „Wenn das in diesem Tempo weitergeht, brauchen wir 200 Jahre, um das zu erreichen, was Frankreich in sechs Jahren stemmt,“ sagte AG DOK-Vorsitzender Thomas Frickel, als er zu Beginn einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Leipziger Dokumentarfilmfestivals erläuterte, warum sich der Verband neben all seinen anderen Aufgaben auch um die Bewahrung unseres audiovisuellen Erbes kümmert.
Eine Reihe versierter Experten war der Einladung des Dokumentarfilmverbands gefolgt und beleuchtete das Thema aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Denn Dokumentarfilmer, so wurde schnell deutlich, sind in verschiedener Hinsicht von der Archivproblematik betroffen: als Hersteller und damit als Anbieter erhaltenswerter Filme ebenso wie als Nutzer historischer Filmmaterialien, die dazu natürlich erschlossen und in die heute gängigen Formate umkopiert sein müssen.
Der Koordinierungsbedarf scheint groß, denn das audiovisuelle Erbe in Deutschland ist auf rund 1000 verschiedene Adressen verteilt, berichtete Dr. Anna Bohn, Referatsleiterin für Film und audiovisuelle Medien der Zentral- und Landesbibliothek Berlin – von den zeitgeschichtlich wertvollen Beständen im Privatbesitz der Filmemacher ganz zu schweigen. Weil eine Handvoll großer Archive die wenigen finanziellen Mittel, die es zur digitalen Erschließung dieser Bestände gibt, untereinander aufteilen, bleibt zur Rettung anderer zeitgeschichtlich wertvoller Filmbestände nur wenig übrig. In dieser Situation sind es gestandene Dokumentaristen wie Prof. Helmut Herbst oder Peter Heller, die sich in persönlichen Initiativen für die Rettung des Filmerbes einsetzen. Und seit mit der Insolvenz eines Berliner Filmkopierwerks die Problematik plötzlich viele ihrer Mitglieder einholte, hat sich auch die AG DOK dieses Thema s angenommen. Schon 2008 hat sie versucht, verschiedene Institutionen zu einer konzertierten Aktion zu bewegen und war mit ihren Positionen auch zu einer Anhörung in den Kulturausschuss des Bundestags eingeladen. Doch nachdem es in diesem Jahr endlich gelang, rund 16.000 Filmbüchsen aus den feuchten Kellerräumen des ehemaligen Berliner Kopierwerks zu retten, fühlt sich anscheinend niemand mehr für die Übernahme der Folgekosten verantwortlich. Denn jetzt steht die mühsame und zeitraubene Arbeit der Sichtung, Aufarbeitung und Rechteklärung an.
Wie Rechtefragen und juristische Fallstricke die Nutzung von Archivmaterialien erschweren und manchmal ganz verhindern können, legte Medienanwalt Fabian Haslob von der Berliner Kanzlei KV Legal dar, und Cay Wesnigk, selbst Regisseur und Produzent von Dokumentarfilmen und zugleich Vorstand der onlinefilm AG, stellte die Idee eines Netzwerks vor, dessen Teilnehmer sich gegenseitig Archivmaterialien zu gemeinsam festgelegten Konditionen anbieten sollen. Damit, so die Hoffnung, könnte die prohibitive Preisgestaltung vieler kommerzieller Archive durchbrochen werden. Denn nicht selten werden selbst kurze Ausschnittrechte zu Preisen angeboten, die sich durch den Verkauf eines fertigen Films überhaupt nicht mehr erlösen lassen.
Dr. Stephan Bleek, Geschäftsführer der Münchner Firma „Framepool“, konnte diese Probleme aus seiner Erfahrung nur bestätigen. Sein Unternehmen handelt mit Filmausschnitten, die es im Auftrag der Produzenten aufbereitet und konfektioniert. Bei „framepool“ weiß man, dass bei vielen Produzenten noch ungehobene Schätze in den Kellern schlummern. Sie zu aktivieren, sei nicht uninteressant. Denn der Markt verlangt gerade bei zeitgeschichtlichen Aufnahmen nach immer neuen, unverbrauchten Bildern. Und die können sich sowohl in fertigen Filmen als auch in ungeschnittenem Rohmaterial finden. Grundsätzlich, das war unbestritten, ist da Einiges vorhanden, was bewahrenswert ist. „Filmerbe“ eben, dokumentarisches Material, das aussagekräftig ist für die audiovisuelle Geschichtsschreibung. Allerdings warnte Bleek zugleich vor übersteigerten Erwartungen in die Archivverwertung als zusätzliche Einnahmequelle. Im Rahmen des gesamten Produktionsmarktes mache der Teilaspekt der „Klammerteilverwertung“ seiner Schätzung nach weltweit vielleicht 250 Millionen Dollar im Jahr aus. Das ist angesichts der Milliardenumsätze der Filmbranche ein relativ bescheidener Betrag.
Vor jeder Form der Nutzung stellt sich allerdings zunächst einmal die Frage nach der Benutzbarkeit. Egbert Koppe, technischer Leiter des Bundesfilmarchivs, verwies darauf, dass von den rund 150.000 Filmen, die das Bundesarchiv aufbewahrt, überhaupt erst ein Drittel durch vorführbare Kopien und durch Dokumentation der „Metadaten“ – also etwa den Nachweis verschiedener Schnittfassungen, Notizen, Protokolle und Schlagwortregister „zugänglich“ gemacht werden konnte. Und die nach wie vor ungelöste (und vermutlich auch gar nicht zu klärende) Problematik des richtigen Trägermaterials beschäftigt die Archivare ebenso wie die Frage, welcher Archivierungsstandard möglicherweise in zehn, zwanzig oder hundert Jahren gelten wird. Sicher sei 4K gegenwärtig eine gute und ausreichende Auflösung – aber, so Koppe: „Man weiß nicht, was noch kommt...“ Dr. Bohn warnt in diesem Zusammenhang gar vor einem „dunklen Zeitalter“. Denn mit den klassischen Filmkopierwerken gehe auch das Wissen des hochspezialisierten Fachpersonals verloren. Sie plädierte in diesem Zusammenhang für einen „Schulterschluss“, eine gemeinsame Aktion aller Beteiligten, ähnlich dem „National Preservation Act“ in den USA, bei dem alle Betroffenen – Autoren, Produzenten, Redakteure, Kopierwerke – zusammen überlegten, wie denn das gemeinsame Filmerbe zu archivieren sei, und was das koste.
Es oblag AG DOK-Vorstandsmitglied Dr. Thorolf Lipp, als Moderator der Veranstaltung die Zuhörer mit präzisen Fragen durch den Dschungel der Begrifflichkeiten zu führen und dort nachzuhaken, wo Konkretisierung wünschenswert war. Lipp, der im Sommer auch die Rettung der Filmbestände aus dem untergegangenen Kopierwerk Film- und Videoprint geleitet hatte, hat bereits an verschiedenen Archivprojekten mitgearbeitet und vertritt die AG DOK unter anderem im Fachausschuss „Kulturelles Erbe“ des Deutschen Kulturrats. Sein Fazit: „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem“. Das ist richtig. Und so lange die Bundesregierung nicht anerkennt, dass auch die Archivierung vieler dokumentarischer Aufnahmen eine nationale Aufgabe ist, und dass diese Archivierung Geld kostet, werden wir nur vorankommen, wenn wir auf weiteren Veranstaltungen dieser Art über die Thematik informieren.
Claas Danielsen, der scheidende Festival-Leiter, hatte es sich nicht nehmen lassen, die Teilnehmer der Diskussionsrunde selbst zu begrüßen und dabei auf die jahrelange gute Zusammenarbeit zwischen DOK Leipzig und dem Berufsverband zu verweisen, dem er auch selbst angehört. Einen Dank, den Thomas Frickel nur zurückgeben konnte: die Vorschläge und Impulse der AG DOK seien von DOK Leipzig und insbesondere von Danielsen stets mit großer Offenheit aufgenommen worden, und es sei zu hoffen, dass diese Partnerschaft auch mit seiner Nachfolgerin Leena Pasanen fortgesetzt werden kann.