AG DOK - Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V.
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Film
Europäisches Symposium "Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche"
vom 22.09.2014
Von Marcus Seibert.
Auch in Deutschland gibt es mit dem vom ZDF-Kinderfernsehredakteur Jens Ripke betreuten „Stark!“ mit Sendeplatz Sonntag morgen auf Kika ein erfolgreiches und bekanntes Traditionsformat der Kinderdoku. Die WDR-Initiative „dokmal“ ist in eine ähnliche Richtung gestartet. Manchmal mangelt es noch an Kontinuität in der Entwicklung einer eigenständigen Filmsprache. Vor allem aber Vernetzungsgrad, Reichweite und crossmediale Durchschlagkraft bleiben im Land der Sender-Kleinstaaterei hinter denen der niederländischen und skandinavischen Nachbarn zurück.Im dfi-Symposium ging es daher weniger um Wiederbelebung der dokumentarischen Form für junge Zuschauer, als, wie Jana Touzimska vom Festival „OneWorld“ aus Prag das formulierte, unbedingt und in erster Linie um Kontinuität: Was einmal abgeschaltet oder nicht mehr produziert wird, kann für immer verschwinden, das Erreichte gefährden. Ein Intendant oder Programmdirektor mit neuen Vorstellungen kann da genau so gefährlich werden wie die europäische Finanzkrise. Das hat man zum Beispiel in der EBU, wo es das älteste feste internationale Austauschprogramm für Kinderdokus gibt, gesehen, als in den letzten Jahren Länder absprangen, weil deren Sender aufgelöst wurden (Griechenland, Israel), Gebühren nicht mehr bezahlt werden konnten (Zypern, Spanien). Kontinuität muss auch in der Ausbildung und Arbeitsmöglichkeit der Macher da sein – auch das wurde immer wieder betont: Es ist keineswegs selbstverständlich ist, dass Filmemacher Filme mit und für Kinder machen. Wenn sie beispielsweise an der KHM die Gelegenheit bekommen als Erstling eine Kinderdokumentation zu machen, müssen die Talente weiterentwickelt werden. Kontinuität ist auch wichtig in der Präsenz von Filmen auf Festivals, wo sie inzwischen ein großes Forum gewonnen haben, aber auch in der Zugänglichkeit für die Zielgruppe. Das niederländische Erfolgsmodell ist ein Beweis dafür, was mit Kontinuität erreicht werden kann, wenn über nun schon fünfzehn Jahre hinweg verschiedene und sogar immer mehr Institutionen an einem Strang ziehen und ein einmal gut geheißenes Modell über lange Zeit verfolgen und immer weiter entwickeln. Die Erfolge auf Festivals und das steigende Interesse an den Filmen aus dem Ausland ist in diesem Umfang nur möglich, weil für den „Dutch Touch“ jahrelang gemeinsam konzentriert in eine Richtung gearbeitet wurde und nicht nur in der Produktion von Filmen. Albert Klein Haneveld von der Produktionsfirma Hollandse Helden hat betont, wie wichtig es ist, das „second life“ der Filme, ihre Auswertung und Sichtbarmachung schon in den Produktionsbudgets mitzubedenken.
Was sich in den letzten Jahren spürbar verändert hat, ist aufgrund der technischen Entwicklungen die Medienrezeption der Kinder, überhaupt ihre Umgangsweise mit Film. Wenn Sendervertreter naturgemäß von Sendeplätzen reden: Nur noch 20% der Kinder erklären, dass für sie Fernsehen eine wichtige Informationsquelle ist – auch das ein Statement des Symposiums. Die inzwischen landläufige Debatte um die Zukunft des Fernsehens schlägt hier noch stärker durch als anderswo, weil die „Generation Selfie“ die Vorreiter einer andersgearteten Mediennutzung sind. Das wird noch vieles durcheinander werfen. Was und wie genau wird vielleicht ein Symposium in zehn Jahren zeigen. Wenn immer wieder von „Medienkompetenz“ gesprochen wurde, so klang das für mich doch immer noch sehr nach pädagogischer Bevormundung: Als hätte die Jugend diese Kompetenz eben nicht und müsse sie erst erwerben, dabei komme ich mir meinen Kindern gegenüber oft so vor, als müsste ich von ihnen den unbefangenen Blick neu lernen, den ich immer meine zu haben. Petra Schmitz von der dfi hat hier den französischen Wissenshistoriker Michel Serres zitiert: Drehen wir die jeglicher Vermittlung zugrundeliegende Inkompetenzvermutung um. Wir sind gefordert, die Strukturen für eine veränderte Mediennutzung zu schaffen, nicht umgekehrt.
Wie das aussehen kann, war zweifellos ein Schwerpunkt dieses Symposiums. Entscheidend ist heute die Präsenz im Internet. Das schließt den Senderbetrieb keineswegs aus, im Gegenteil. Internetplattformen sind eine Ergänzung des Sendebetriebs, die gerade die Young Audience besonders gut erreicht. Das haben alle Sender inzwischen erkannt. Ein Zitat am Rande des Symposiums „Die Zukunft des Fernsehens ist nicht-linear“. Das wirkt bedrohlich, ist aber auch eine Chance. Gerade als geübte Content Provider verfügen Sender über Kontexte und Strukturen, die ihnen in einer Zukunft mit offenen Internetplattform oder Video on Demand eine hervorragende Startposition einräumen. Die Frage nach den Lizenzen klang hier vielfach an. Die urheberrechtliche Situation von im Netz über lange Zeiträume frei verfügbaren Filmen. Es geht nicht nur – aber auch – um angemessene Honorare für die Macher, sondern generell um die unklare Rechtslage von geistigem Eigentum im Netz. Nur am Rande wurde erwähnt, welches Hemmnis der Rundfunkstaatsänderungsvertrag in Deutschland darstellt, der es gerade öffentlich-rechtlichen Sendern schwer macht, im Netz frei zu operieren.
Trotzdem gelangen auch hier viele Filme ins Netz. Aber „Filme müssen gefunden werden“, wie das Reinhold Schöffel vom Bundesverband Jugend und Film formulierte: Wenn selbst Jugendliche, die an einer Filmwebsite mitwirken, eine Website nicht kennen, dann ist die Frage im genannten Sender offenbar unbeantwortet geblieben, wie die Kinder ihre Filme im Netz finden sollen. Aus den Niederlanden kam der Hinweis, dass man auch legal kurze Stücke auf Youtube einstellen kann, mit dem Hinweis auf die Website. Auffindbarkeit ist im Netz ein Problem. Hier hilft Bündelung, Konzentration, gemeinsame Strategien. Think big, über den Tellerrand der eigenen Institution hinweg. Je größer das Netzwerk, je mehr Verbündete mitmischen, desto sicherer kommt der Content bei den Usern an. Anders ist auch den Algorithmen der Suchmaschinen nicht beizukommen. Man wünscht sich da manchmal einen sechzehnjährigen Computernerd in den Online-Redaktionen.
Ein Schlupfloch in der Debatte um den Rundfunkstaatsänderungsvertrag, wieweit die Sender im Netz agieren dürfen, scheint sich aus dem Bildungsauftrag zu ergeben. Traditionell meint das Schulfernsehen, aber auch die Vermittlung von Film im Unterricht. Thema Filmbildung. Die Einbettung von Filmerziehung in den Unterricht wurde aus dem Publikum gefordert. Gibt es längst, wie man erfahren konnte. Genau so wie begleitende Programme, online oder live. „Movies in Motion“ heißt das in Deutschland, wenn Filmemacher wie Bernd Sahling an Schulen gehen und dort Workshops leiten, aber das gibt es in vielen anderen Ländern auch und expandiert erfreulich. Schulen hat man als Multiplikatoren erkannt. Aber auch die Festivals: Wenn Klassen zu Filmvorführungen auf Festivals kommen, ist das nicht selten der für viele junge Zuschauer überraschend positive Erstkontakt mit Dokumentarfilmen für Kinder. Aber um die Angebote auch wahrzunehmen, müssen vor allem die Lehrer an die Möglichkeiten herangeführt werden, die sich aus der Vermittlung von Filmkultur für sie ergeben. Es gibt inzwischen „Filmbildungsmoderatorenausbildung“, aber auch zunehmend Filmbewusstsein in der Lehrerausbildung. „Jeder Film ist besser als Unterricht“, meinte eine der Schülerinnen von der Kölner Redaktion des online-Magazins spinxx lakonisch. Diese Attraktivität ist eine Chance für die Vermittlung von Filmkultur. Dass Kinderdokus vor allem wichtig seien, das Bewusstsein zu schulen für die Unterschiede von fiction und Dokumentarischem (das kam im Symposium als Argument) erscheint da etwas dünn und hergeholt. Das Bedürfnis ist ja bei den Kindern erkennbar, sich mit Dokus auseinanderzusetzen, so lange die als „relevant" wahrgenommen werden, als echt und von der Lebenswirklichkeit anderer Kinder erzählend, das stimmt heute wie vor 13 Jahren. Offensiver und insofern passender klang das dann bei doxwise: „fuck reality shows – show us reality“.
Nur am Rande gab es ein Plädoyer für Kinderdokus im Kino, das auf den ersten Blick den Usern neuer Medien fremd zu sein scheint. Aber ist Kino wirklich eine altmodische und allmählich absterbende Vorführungsform? Die Besucherzahlen sprechen eine andere Sprache. Felix Vanginderhuysen vom Vertrieb Jekino berichtete, dass man in Belgien gerade mit Kinovorführungen von 40-Minuten-Programmen um 14:00 und 15:00, also vor dem eigentlichen Kinoprogramm gute Erfahrungen macht. Ein Versuch wäre das auch in Deutschland wert, wo Kinderdokus zwar vielfach auf Festivals laufen, aber nie im Kino.
Diese scheinbar gegenläufige Tendenz zunehmender Kinonutzung bei Jugendlichen gehört zur beobachteten Vervielfachung der McLuhanschen Kanäle, der Darbietungen und Darbietungsformen. Kino und Fernsehen, Facebook, Youtube, Internetplattformen, Video on Demand, wie sich auch der Filmemacher Calle Overweg gewünscht hat, DVDs, über alle diese Wege können heute Kinder Filme rezipieren. Und alle diese Vorführungsformen können gegenseitig aufeinander hinweisen. Die Vervielfältigung der Kanäle macht das Bild komplizierter. Die Möglichkeit im Internet an etwas teilzunehmen, das Parteigänger des freien Netzes „to share copies“ nennen, den freien gemeinsamen Gebrauch von Kopien, die inzwischen Originale sind, verändert auch die Filme. Ich habe am Freitag hinter der Saalkamera gesessen, die das Symposium aufgezeichnet hat, als doxwise präsentiert wurde. Im Display der Kamera sah man die Leinwand, auf der eine Kamera zu sehen war, in deren Display man die Protagonistin eines Videotagebuchs sah. Film im Film im Film, endlos verlängerbare Schleifen wie in einem Spiegelkabinett. Ich kann mich noch erinnern, mit welcher Ehrfurcht ich zum ersten Mal eine Videokamera in der Hand gehalten habe, die furchtbare Bilder lieferte, aber eben meine. Kinder wachsen heute mit der Möglichkeit selbst Filme zu drehen selbstverständlich auf, Jugendliche sehen Filme als eine gängige Ausdrucksform, vielleicht wie Gedichte vor dreißig Jahren. Stichwort Partizipation.
Auffällig war in der Diskussion um partizipative Formen des Umgangs mit Kinderdokumentarfilm, dass eine Unterscheidung, die der Titel des Symposiums vornimmt, erst bei diesem Thema so richtig in den Blick kam: Dokumentarfilm für Kinder UND JUGENDLICHE. Jeder, der sich mit Kinderfilm befasst, weiß um die unterschiedlichen Zielgruppen der Kinder von 8-12, um die es in den ersten Vorträgen und Panels ging und Kindern darüber, Jugendliche, in der Pubertät, aber auch schon viel selbständiger in den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Nicht nur Calle Overwegs Film „Die Villa“ ist ein Beispiel, dass Kinder von 8-12 mit Partizipation nicht so viel anfangen können wie ältere. Auch die Filme der Initiative Screenagers erzählen, je älter die Macher werden, desto interessantere Geschichten. Dass doxwise sich nur an Selfie-Freunde über achtzehn richtet, hat zwar einen rechtlichen Hintergrund – und noch bei Volljährigen scheint es absolut erforderlich, die Jugendlichen vor ihrem eigenen Exhibitionismus zu schützen oder genauer, vor dem Voyeurismus der Zuschauer, vor den Shitstorms und dem Dissen. Aber wenn man sich fragt, ob partizipative Filme die Zukunft der Kinderdoku sein werden, dann kommt man eher zu dem Schluss: Ein weiterer Kanal, ein tolles Spielfeld, aber eher für die Älteren. „You are the author of your own lifestory“ war auf einem Schild im Hintergrund eine Dokumentation zu lesen. Aber nicht jeder will Autor sein und werden. Und wer ein Autor ist, kann noch lange nicht schneiden. Das war auch in der Debatte erhellend: Der Reiz der partizipativen Formate liegt in der Kombination von unbefangen sich selbst darstellenden jugendlichen Content Providern und professionellen Teams der Nachbearbeitung. Und gerade diese, das heißt der Schnitt, die Montage ist beim Dokumentarfilm entscheidend. Gelenkt, künstlerisch gestaltet oder zumindest handwerklich sauber gemacht sind diese Filme dank des professionellen Know-hows am Schneidetisch.
Die Lust an der Doku über sich selbst oder der Arbeit mit der Kamera steht nicht für sich. Im Sinne des „Doorkijk“-Effekts, des Durchguckeffekts, wie die Redakteurin von VPRO-Jeugd Melanie de Langen das nannte, soll sie zum Beispiel eventuell Interesse für den Dokumentarfilm im allgemeinen wecken, für Formate, die nebenan auf der gleichen Website stehen, wo Jugendliche ihre eigenen Werke einstellen können. Und die Darstellung der Lebenswirklichkeit ist im Dokumentarfilm mit und von Kindern nicht alles, wie man gerade in den Diskussionen über Selbermachformate zu hören bekam: Film ist eine Kunstform, Dokumentarfilme genauso wie fiktionale. Das kann man und muss man vermitteln. In der Schule, aber auch allgemein im Leben. Es ging subkutan in den Debatten immer auch um ästhetische Qualität. Das wurde nie ausführlicher besprochen, weil es ein schwieriges Thema für Präsentationen und Diskussionen auf dem Podium ist, ein geschmäcklerisches noch dazu. Die dazugehörigen Gespräche fanden vorwiegend in den Pausen statt und wurden dort mit einiger Leidenschaft geführt. Ich fasse das mal im Stile eines Moodboards zusammen: „Dokumentarfilm darf nicht manipulieren. Er schafft einen Raum für das, was wirklich passiert, wat er echt gebeurd, wie man auf Niederländisch sagt.“ – „Dokumentarfilme, gerade mit Kindern, müssen inszenieren. Sonst kommt nichts Qualitatives dabei heraus.“ – „Aber das sieht dann mit Kindern, die keine Schauspieler sind, immer gestellt aus.“ – „Der Look entscheidet, die überzeugende Stilisierung: Wenn die Kamera großartig agiert, merkt keiner das Gestellte im Spiel.“ – „Gestellt sieht es vor allem aus, wenn die Kamera sich der Ästhetik von Videoclips anbiedert.“ – „Aber dieses ganze langsam geschnittene Zeug ist doch noch viel gestellter. Das sieht sich doch heute kein Kind mehr an.“ – „Das Problem ist doch ein ganz anderes: Die Unterscheidung zwischen Kinderfilm und Erwachsenenfilm ist künstlich und hinderlich.“ – „Aber diese Unterscheidung gewährt dem Kinderfilm einen Schutzraum, der ihn überhaupt erst entstehen lässt. Sollten wir doch froh sein.“
Zweierlei lässt sich aus den inhaltlichen Diskussionen ablesen: Die eigenen ästhetischen Positionen sind immer mit Vermutungen verwoben, was sich die Young Audience wirklich wünscht. Oder anders herum: Sie vermischen sich mit den eigenen Wünschen an den Film, nur so ist es allerdings möglich, gute, leidenschaftliche Filme zu machen, die dann auch aufgrund ihrer Qualität ihr Publikum finden. Und wie gut das eigentlich funktioniert, wurde in der Diskussionsrunde der Jugendlichen auf dem Podium spürbar, die fast die gleichen Argumente für oder gegen einzelne Filme vertraten. Und zweitens: Diese inhaltliche Diskussion wäre in dieser Leidenschaftlichkeit gar nicht möglich ohne die vielen tollen Dokumentarfilme, die wir hier während des Symposiums oder in der Vorbereitung online gesehen haben – ob für, über oder von Kindern, erst mal egal. Das war in dieser Ballung für mich sehr anregend und ermutigend. Es gibt ihn: Den ästhetisch anspruchsvollen dokumentarischen Film mit jungen Protagonisten. Und er wird von den Kindern und Jugendlichen geschätzt, wenn sie mit ihm in Kontakt kommen. Es gibt ihn sogar inzwischen reichlich, ob von Sendern finanziert oder von der Stadtverwaltung des Lissaboner Vorortes Setúbal, von der Gemeinde Wandlitz, vom Goethe-Institut oder öffentlichen Stiftungen, die vielfach noch nicht bei allen als Förderer der gemeinsamen Arbeit im Blick sind. Es gibt ihn und die Szene ist sehr lebendig, ein Feld, in dem noch viele neue Kooperationen möglich sind und viele wunderbare Projekte entstehen können, wenn sich die Richtigen dafür zusammen finden und wenn wir alle offen dafür bleiben, was Kinder und Jugendliche beschäftigt, wie sich die Medienlandschaft und damit auch die Ästhetik der Filme verändert. Ich wünsche uns allen dafür in den nächsten Jahren viel Glück und Erfolg.
s.a. taz: Fernsehen für Kinder: Wo Arte durchfällt