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Journalismus

THE NEW PHASE OF ITALIAN DOCUMENTARY

Ein Bericht über die 8. Edition des MIA Market in Rom & ein Gespräch mit Marco Spagnoli, Leiter der Sektion Doc&Factual

vom 03.11.2022

THE NEW PHASE OF ITALIAN DOCUMENTARY
Ein Bericht über die 8. Edition des MIA Market in Rom & ein Gespräch mit Marco Spagnoli, Leiter der Sektion Doc&Factual

Von Carmen Té

 

Von 11. bis 15. Oktober 2022 fand die 8. Edition des MIA Market an faszinierenden Orten statt: in der Pinakothek Palazzo Barberini und dem Multiplex-Kino Barberini in Rom.
MIA Market ist in vier Sektionen unterteilt: Doc&Factual, Fiction, Drama und Animation. MIA ist es gelungen, zum wichtigsten Treffen des International Audiovisual Markets in Italien zu werden. Dieser Veranstaltung geht - gewissermaßen als Einführung - die Festa del Cinema di Roma voraus. 2022 konnte die MIA 2400 TeilnehmerInnen aus 60 Ländern empfangen.

RAI Cinema hatte bisher dokumentarische Kinoproduktionen nur in äußerst geringem Umfang gefördert. Und so besteht nun die wichtigste Neuigkeit für die Welt des Dokumentarfilms darin, dass RAI nach jahrelangen Überlegungen, Versuchen und Vorbereitungen wieder eine Dokumentarfilm-Redaktion (Fernsehen) eingeführt hat. In relativ kurzer Zeit erhielten 40 italienische Produktionsfirmen Aufträge für 50 italienische Dokumentarfilme. Da offensichtlich ein großes Bedürfnis nach der dokumentarischen Aufarbeitung der eigenen Identität und Kultur besteht, liegt der Focus momentan auf den Themen italienische Geschichte, Politik und den Biographien bedeutender Persönlichkeiten aus allen Bereichen.
Als Folge dieser erstaunlichen Entwicklung bietet auch das Filmarchiv „Istituto Luce“ vor allem den unabhängigen, kleineren Produktionsfirmen günstigere Konditionen für die Verwendung des wertvollen Archivmaterials an, das ab 1924 Fotos und Filme zur Geschichte Italiens und des Mittelmeerraumes im 20. Jahrhundert enthält.

Brauchen die DokumentaristInnen denn überhaupt einen zusätzlichen Audiovisuellen Markt?
Ich habe darüber mit dem Vizedirektor des MIA Market und Leiter der „Doc& Factual“ Reihe Marco Spagnoli - Journalist, Drehbuchautor und Regisseur - gesprochen:

 

Carmen Tè: Warum sollten deutsche DokumentarfilmemacherInnen zum MIA Market kommen?

Marco Spagnoli: Die DokumentaristInnen finden dort ein internationales Umfeld, das ihnen internationale Dokumentarfilmproduktionen bietet. Dort versammeln sich die europäischen und internationalen Hauptplayer im Rahmen eines Marktes, dessen Schwerpunkte sich auch auf die Bereiche Film, Drama und Animation erstrecken. Damit ist Mia Market eine Art „one stop shop“.

 

CT: Wie unterscheidet sich MIA Market von Sunny Side of the Doc?

MS: Strukturell gesehen liegt der Schwerpunkt von Sunny Side ausschließlich im Bereich Dokumentarfilm, während MIA Market alle Bereiche der modernen Audiovision einbezieht.
Sunny Side hat sicher mehr Kontakte zu den Fernostländern. Unsere mediterrane Lage und Lebensart ermöglichen allerdings eine eher informelle Atmosphäre, auch was den Zugang zu den großen Playern betrifft.
Unabhängig davon, dass ich Frankreich sehr liebe - meine Frau ist Französin - und wir mit Sunny Side befreundet sind, denke ich doch, dass „alle Wege nach Rom führen“. Genauer gesagt: Ein Vorteil für MIA ist sicher, dass Rom leicht zu erreichen ist.
Präziser gesagt ist MIA ein Projekt, das italienische ProduzentInnen im Auftrag dreier Ministerien realisieren: dem Kulturministerium, dem Wirtschaftsministerium und dem Außenministerium. Das bedeutet, dass wir mit dem, was wir planen und auf die Beine stellen, kein Geld verdienen müssen. Stattdessen müssen wir das Budget auf die vernünftigste Weise in den gesamten Markt investieren. Einen ökonomischen Gewinn aus diesem Förderprojekt gibt es nicht, anders als bei den „privaten“ Märkten üblich, wohl aber eine behördliche Unterstützung, die uns unabhängiges Handeln in einem weiten Spielraum erlaubt.

 

CT: Was meinen Sie genau mit der Bezeichnung “unabhängige Filmproduktionen” in Italien?

MS: Alle Filmproduktionen sind unabhängig in Italien, auch wenn einige Player größere Spielräume haben. Der Dokumentarfilm-Markt in Italien erlebt gerade einen enormen Aufschwung, weil das Publikum das Genre während der Pandemie entdeckt hat und nun schätzt.
Die Tatsache, dass RAI sich jüngst entschlossen hat als Ko-Produzent aufzutreten sowie die Verbreitung der Filme auf den VOD Plattformen, führt zu einem bedeutenden Wachstum der Dokumentarfilmproduktionen auch bei uns.
Wer nach Italien kommt, wird auf einem Markt, der gerade seine Identität und seinen wirtschaftlichen Wert sucht, neue Chancen entdecken.

 

CT: Wie hoch ist das durchschnittliche Budget in Italien für einen Dokumentarfilm?

MS: Zwischen 100.000 und 400.000 Euro. Der große Unterschied ist den Kosten für das Archivmaterial geschuldet. Das ist ein Thema, das wir in mehreren, sehr gut besuchten Panels dieses Jahres behandelt haben.

 

CT: In Deutschland gibt es für den unabhängigen Produzenten den Ausdruck “RucksackproduzentIn”, damit sind die kreativen AutorInnen gemeint, die mit ihren Ideen und ihren unterschiedlichen Herangehensweisen und Visionen den demokratischen Disput gewährleisten. Gibt es Raum für solche AutorInnen in Italien, RAI und MIA Market?

MS: Meine professionelle Ausbildung habe ich in den USA erworben: ich habe lange mit (und nicht für sie!) den amerikanischen Majors gearbeitet und mein Zugang ist sehr Old Hollywood…
Wenn du eine gute Idee hast und kannst sie erzählen, wird deine Idee früher oder später das Licht der Welt erblicken. Es gibt Platz für alle. Die Bedingung ist allerdings, dass die Stories für ein breites Publikum entwickelt werden und nicht für unverkäufliche inhaltliche Überlegungen.
Ich liebe Autorenfilme und glaube an den kulturellen und sozialen Auftrag der Produktionen, aber ich glaube auch, dass der gebildete Zuschauer das Recht hat, eine Erzählform zu bekommen, die seiner Intelligenz entspricht.
Wie Walt Disney so schön sagt: es reicht nicht an Dinge zu denken, man muss sie realisieren können.
Und genau das ist unsere Einstellung: Geschichten und Inhalte, die dank der Intelligenz und Integrität einer Erzählerin/eines Erzählers vermittelt werden, die aber auch die Intelligenz und die kulturelle Tiefe haben müssen, das Publikum in Bann ziehen zu können.
Vor allem in einer historisch und politisch derart verwirrenden Zeit, die wir gerade durchleben, hat das Kino und haben die Dokumentarfilme die moralische Verpflichtung, die Menschen so eindeutig wie möglich anzusprechen.
MIA Market, und vor allem die Sektion Doc & Factual, werden von Menschen realisiert, die an den Wert der Erzählung und der Vielfalt glauben. Wir stellen gerne sowohl Eine-Million-Dollar-Projekte wie auch 30.000-Euro-Projekte vor unter der Bedingung, dass sie sich ganz klar voneinander unterscheiden und ihre hohe erzählerische Qualität eindeutig zu erkennen ist.

 

CT: Ich bitte Sie um einen Kommentar zu der Initiative Global Doc und zu der Teilnahme von RAI an diesen ambitionierten Projekten? Welche sind Ihre Erwartungen?

MS: Wir jammern alle über das Europa der Bürokraten, vergessen dabei aber, dass wir mit einer solchen Zuschreibung Europas als „Apparat“ die Wachstumsmöglichkeiten und die Entwicklung des audiovisuellen Markts schwer beschädigen. Heute muss die Bewegungsfreiheit der Menschen, der Ideen, der Güter auf ein europäisches Narrativ unserer Zeit treffen.
Global Doc ist eine ganz besondere Initiative, die noch weitere Finanzierungen braucht: wäre es nicht wunderschön, Geschichten zu sehen, die uns alle betreffen; Geschichten, die ein gemeinsames europäisches Bewusstsein für die zukünftigen Bürger bilden? Vielleicht werden die zukünftigen Generationen noch mehr Fremdsprachen der europäischen Mitgliedsländer sprechen?
Damit ähneln diese Gedanken denen, die zur Gründung des deutsch-französischen Senders ARTE geführt haben. Deshalb sind alle wirtschaftlichen, kulturellen, geschäftlichen und demokratischen Initiativen willkommen, die in Richtung kulturelle Vielfalt gehen.

 

CT: In der diesjährigen Edition hat MIA seine besondere Zusammenarbeit mit Frankreich vorgestellt. Gibt es auch Interesse an einer Zusammenarbeit mit Deutschland?

MS: Die Zusammenarbeit Italiens mit Frankreich auf der Ebene der Audiovision mündete seit ihrem Beginn in eine feste Tradition. Für uns war es immer sehr einfach, mit den Franzosen einen offenen Dialog zu führen.
Mit Deutschland könnten wir so vieles zusammen realisieren! Ich habe versucht, in Cannes, in Berlin und in mehreren Veranstaltungen einen deutschen Ansprechpartner für eine Zusammenarbeit zu finden, aber – und das ist vielleicht auch meine Schuld - es ist mir noch nicht gelungen.
Wir würden uns sehr freuen, wenn sich auch eine Partnerschaft mit deutschen ProduzentInnen und/oder Institutionen ergeben könnte, die an einer ökonomischen und kulturellen Entwicklung des audiovisuellen Marktes interessiert sind. MIA ist für alle Teilnehmenden eine hervorragende Chance – nicht nur für die, die den Markt veranstalten!

 

CT: Haben Sie bereits Ideen für die nächste Edition? Können Sie mir jetzt schon Ihre Überlegungen verraten, um die KollegInnen aus dem deutschsprachigen Raum auf MIA Market neugierig zu machen?

MS: Es ist einfach noch etwas zu früh, um die nächsten Trends einschätzen zu können, aber eines ist sicher: wir möchten uns im kommenden Jahr mit Musikdokumentationen und Urheberrechten beschäftigen. Außerdem möchten wir uns mit modernen Technologien befassen, wie sie für die Erzählungen der Geschichte und Archäologie angewandt werden. Wir sind aber auch offen für alle weiteren Vorschläge.
Warum man zum Mia Market kommen sollte? Weil man hier neue Projekte vorstellen, Chancen ergreifen, Ideen finden kann. Alles ist sehr klar und transparent gestaltet: In der Ruhe eines Renaissancepalastes, mitten in der Ewigen Stadt, lauschen die internationalen AnsprechpartnerInnen bei einem Pitching Forum der Vorstellung der Projekte…

 

Carmen Tè: Ich möchte meinen Bericht mit einem Gedanken abschließen, den der Leiter der Doc.it (Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilmer Italiens) Francesco Virga bei dem Panel “The New Phase of Italian Documentary” gesagt hat, und den ich für sehr wesentlich halte: “Die Industrie hat noch nie Ideen geschaffen, die Ideen kommen von den einzelnen AutorInnen, die kreativ und handwerklich arbeiten. Die Industrie kann nur ihre Ideen übernehmen und seriell reproduzieren.“

 

 

 

 

 

 

 

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