AG DOK - Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V.
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Film
Die Zukunft des Kinos passiert jetzt!
Neun Thesen des DOK.fest München zur Zukunft des Kinodokumentarfilms
vom 17.06.2020
Von Daniel Sponsel & Adele Kohout.
Das DOK.fest München hat sich aufgrund der aktuellen Situation mit seinem Filmprogramm auf den hart umkämpften Markt der Online-Präsenz begeben, auf dem wir als neuer Anbieter eigentlich nur verlieren konnten. Nun beweist uns der hohe Zuspruch, dass dieser Markt offen ist für diese herausragenden Filme. Mehr als 75.000 gezählte Zuschauerinnen und Zuschauer haben die 121 Filme des DOK.fest München @home, die DOK.forum und DOK.education Veranstaltungen online gesehen. Die Zahl der tatsächlichen Zuschauer.innen dürfte deutlich höher liegen, da wir nicht wissen, wie viele Menschen in jedem Haushalt jeweils vor dem Bildschirm saßen.
Das DOK.fest München ist endgültig im digitalen Zeitalter angekommen und wird die wertvolle Erfahrung aus dieser Edition in allen Bereichen – dem Festival selbst, der Branchenplattform DOK.forum und der Bildungsplattforum DOK.education – für seine weitere Entwicklung nutzen. Wenn unsere Förderer, Partner und die Branche dazu bereit sind, werden wir im kommenden Jahr in großem Stile den Beweis dafür antreten, dass sich die Präsenz und die Auswertung von Dokumentarfilmen im Kino und im Netz gegenseitig nicht nur ergänzen, sondern sogar bestärken können. An dieser Stelle sollen neun Thesen diese Chance skizzieren.
Am Ende der Nahrungskette?
Einfach hatten es Dokumentarfilme noch nie in ihren Verwertungswegen. In den letzten Jahren gab es in den Kinos in Deutschland eine hohe Anzahl an Filmen, die nur von wenigen zahlenden Zuschauerinnen und Zuschauern gesehen wurden. Das liegt nicht an der Qualität der Filme, sondern an einem überforderten Markt mit zu vielen Filmstarts und daran, dass die Marketing-Mittel, die einem Kinodokumentarfilm zur Verfügung stehen, oft zu gering sind, um genügend Aufmerksamkeit und Reichweite zu erzielen. Wenn jetzt, nach den Beschränkungen, die Kinos wieder bedingt öffnen, werden sich die Dokumentarfilme ganz hinten in der Reihe anstellen müssen. Die Frage, vor der wir alle nicht erst seit heute stehen, lautet: Wird der Dokumentarfilm in näherer und auch fernerer Zukunft überhaupt noch eine relevante Rolle in der Strategie der Kinoauswertung spielen? These Nr. 1: Der Dokumentarfilm ist ein Genre mit größerem Zielgruppenpotential, als ihm allgemein zugestanden wird. Er muss sich seine Zuschauerinnen und Zuschauer dort abholen, wo sie sind – im Netz. Das gilt für das Marketing, aber eben auch für die Präsentation der Filme selbst.
My Festival first?
Filmfestivals lieben Premieren, jede Premiere ist eine Kerbe mehr im Kolben und der ganze Stolz, an dem sich der Wert eines Festivals scheinbar bemessen lässt. Dabei handelt es sich um eine Tradition, die sich aus der Besonderheit einiger weniger Festivals heraus zu einer nicht mehr zeitgemäßen Eitelkeit gewandelt hat. Sind Festivals wirklich die Geburtshelfer der Filme? Oder leben sie nicht vielmehr von den Filmen, die andere gemacht haben und können diese in der Reichweite und Auswertung unterstützen? Mittlerweile kommt den Festivals in der Verwertungskette für Dokumentarfilme eine ganz spezielle Aufgabe und Verantwortung gegenüber der Branche zu: Die Dokumentarfilmfestivals müssen einen Teil der ausbleibenden regulären Kinoauswertung kompensieren und zwar in den Kinos selbst und möglicherweise ergänzt durch Online-Angebote. Dazu gehört vor allem die Ausschüttung von regulären Screeningfees für alle Filme. Die Festivals sollten ihre Reichweite sowie die jeweilige regionale Verortung in jeder Hinsicht für die Auswertung nutzen. Und: Der Kulturkalender und die Filmbranche in diesem Land bieten genügend Spielraum dafür, dass jedes größere Festival auch genügend Premieren präsentieren kann, so ganz en passant. These Nr. 2: Filmfestivals müssen ihr Selbstverständnis und ihren Auftrag überdenken und weiterführend definieren. Ihr Potential für die Auswertungskette ist größer und wird bisher nicht umfänglich genutzt. Screeningfees für alle Filme sollten verbindlich sein.
Ein Festival ist ein Festival ist ein Festival.
Das World Wide Web bietet einem Festival zahlreiche Möglichkeiten, sich mit seinem Programm im wahrsten Sinne des Wortes weitreichend zu platzieren. Einige Festivals haben diesen Weg jetzt wagen müssen und entdecken auch die Chancen darin. Die vorübergehende Goldgräberstimmung einzelner Festivals sollte jedoch nicht zu vorschnellen Expansionsphantasien verführen. An erster Stelle steht die Verantwortung, die wir als Festival gegenüber den Urheberinnen und Urhebern jedes einzelnen Films, gegenüber der Branche an sich und nicht zuletzt auch gegenüber anderen Festivals weltweit haben. Wenn sich jetzt, nach der Beendigung der Beschränkungen, der aufgewirbelte Staub langsam legt, ist es wichtig, die Strategien an den eigenen Grundsätzen und Zielen zu bemessen und entsprechend zu handeln. Die Verwertungskette von Kinodokumentarfilmen ist national und international ein fragiles Gebäude, aus dem man nicht ohne Folgen einen Stein herausziehen sollte. These Nr. 3: Filmfestivals können in näherer Zukunft noch mehr Verantwortung und Aktivitäten in der Auswertungskette von Dokumentarfilmen übernehmen, möglicherweise auch mit zusätzlichen Online-Angeboten.
Neuland im World Wide Web?
Die Online-Edition eines großen Filmfestivals ist heute überhaupt noch nicht selbstverständlich. Die gegenwärtige Situation zwingt uns, einen Weg zu gehen, der als technische Möglichkeit zwar schon besteht, mit dem wir uns aber in jeder Hinsicht schwertun. Spätestens seit immer mehr Anbieter auf dem Filmmarkt erfolgreich online unterwegs sind und unsere vertrauten Produktions- und Verwertungsketten aus den Angeln heben, ist uns bewusst, dass die Zukunft das Beschreiten neuer Wege fordert. Nun ist die Versuchung groß, das Internet so zu nutzen, wie es sich anbietet: als Möglichkeit, weltweit zu agieren. Das kann nicht das Interesse eines örtlich und zeitlich verankerten Festivals sein. Das DOK.fest München war in seiner Online-Edition deshalb nur deutschlandweit und auf einen Zeitraum von 18 Tagen begrenzt zu sehen. Eine ganz wichtige Maßnahme, um die weiteren Auswertungsmöglichkeiten der Filme zu gewährleisten. These Nr. 4: Das Geoblocking und die zeitliche Begrenzung sind für jede Art der Online-Auswertung die Existenzgarantie für weitere Player in der Auswertungskette – das gilt auch für die Filmfestivals.
Money makes the world go round.
Aktuell reagieren zahlreiche Kulturanbieter und auch Filmfestivals im Netz auf die Beschränkungen mit gut gemeinten Angeboten – kostenfrei. Ein grund¬sätzlich fragwürdiges Signal, auch oder gerade in dieser Zeit. Auf diese Weise forcieren wir weiter den eigentlichen Geburtsfehler des Netzes: die scheinbar urheberlose und kostenfreie Welt des digitalen Contents. Auch in seiner Online-Edition waren die Filme des DOK.fest München nur mit einem Ticket oder dem Festivalpass zu sehen. Alle Preise waren niedriger angesetzt als der reguläre Zugang zum Kino, aber deutlich höher als die Angebote der Mitbewerber aus dem Silicon Valley. Darüber hinaus gab es das Extraticket mit einem Solidar¬beitrag für unsere Partnerkinos. Unmittelbar nach der Entscheidung, mit dieser Edition online zu gehen, haben wir den Rechteinhaberinnen und Rechteinhabern der bereits für das Präsenzfestival zugesagten Filme für die Online-Edition eine erhöhte Beteiligung an der Auswertung zugesagt. Filmkunst muss ihren Preis haben, auch online. Die hohe Anzahl der Besucherinnen und Besucher bestätigt uns jetzt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. These Nr. 5: Filmfestivals müssen reguläre Tickets verkaufen, um somit relevante Screeningfees für alle Filme zahlen zu können. Ganz gleich, ob diese im Kino oder online ausgewertet werden.
Back to the future.
In der diesjährigen Online-Edition sind wir ohne großen Vorlauf und gewohnte Verbreitungsmöglichkeiten aus dem Stand bei einzelnen Filmen auf eine Anzahl an verkauften Tickets gekommen, die den Ergebnissen der regulären Kinoauswertung nahekommt. Dabei haben wir mit Sicherheit auch ein ganz neues Publikum erreicht, das für einen Dokumentarfilm bis jetzt noch nicht den Schritt ins Kino getan hätte. Alle bisherigen Erhebungen über das Verhalten von Cineasten und Filmfreundinnen und Filmfreuden legen nahe, dass sich die Nutzung von Online-Angeboten und der Besuch im Kino nicht ausschließen, sondern teilweise bedingen. These Nr. 6: Filmangebote im Kino und auf Online-Plattformen stehen nicht in unmittelbarer Konkurrenz. Ein gemeinsamer Auftritt erhöht die Reichweite und die Möglichkeiten, mehr und auch ganz neues Publikum zu generieren.
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Die Möglichkeiten für Zuschauerinnen und Zuschauer Filme, zu sehen, ist noch einmal größer geworden und durch neue Anbieter vielfältiger. Der Markt ist schnell, jeder neue Film verdrängt die aktuellen und in der Frage der Preispolitik wird die Stimmung zunehmend aggressiver. Nur wer auf diesem Markt ausreichend sichtbar ist, erhält auch den Zuspruch durch das Publikum. In der Öffentlichkeits- und Pressearbeit kann jeder Film nur einmal Reichweite generieren. Darum ist es insbesondere für Dokumentarfilme wichtig, alle Synergien in der Auswertung zu bündeln. Damit diese Filme auf dem Markt sichtbar werden können, benötigen sie deutlich mehr finanzielle Mittel. These Nr. 7: Die Filmförderungen sollten ihr Konzept für die Vergabe von Distributionsmitteln überarbeiten und erweitern. Dem Kinodokumentarfilm müssen deutlich mehr Mittel für die Kommunikation und das Marketing zugesprochen werden.
Freie Fahrt für freie Bürger.
Wir schaffen es nicht einmal, das Tempolimit auf deutschen Autobahnen politisch umzusetzen. Warum sollte es uns durch eine Regulierung gelingen, den Menschen vorzuschreiben, welche Filme sie wann und wo zu sehen haben? Das Publikum sieht die Filme da, wo es sie bekommt: Das kann im Kino sein, im TV oder online bei einer Streamingplattform. Wir werden keine Menschen zurück in die Kinos bekommen, wenn wir glauben, wir könnten ihnen die Art und Weise, wie sie bestimmte Filme zu sehen haben, vorschreiben. Der Markt ist zu groß und zu liberal, um ihn regulieren zu können. Aber wir sollten nicht Netflix, Disney oder Amazon alleine darüber entscheiden lassen, welche Dokumentarfilme wir online sehen können und welche nicht. Es ist von großem allgemeinen Interesse, in Deutschland Strukturen aufzubauen, die eine Koexistenz der Online-Auswertung und im Kino möglich macht und miteinander verzahnt. Die Projekte KINO ON DEMAND und KINOFLIMMERN sind ein Anfang, das DOK.fest München @home 2020 eine in diesem Sinne wertvolle Erfahrung – weitere sollten unbedingt folgen. These Nr. 8: Die Kinosperrfrist stammt aus der Zeit des linearen, dualen Marktes. Sie kann die Kinos nicht mehr schützen, sondern verwehrt den Filmen nun den Zugang zum Publikum. Die Kinosperrfrist ist in diesem Sinne für Dokumentarfilme kontraproduktiv und sollte aufgehoben werden.
Kino on demand.
Wir müssen davon ausgehen, dass wir als gesamte Gesellschaft nach dieser Krise nicht einfach wieder in den Ausgangsmodus zurückkehren können. Dazu ist diese Krise zu substanziell, dafür sind die Bedürfnisse in unserer Wohlstandsgesellschaft zu ausge-prägt und divers. Das gilt insbesondere für Großveranstaltungen und sicher auch für das Kino. Das Kino muss in näherer Zukunft eine Koexistenz mit dem Netz nicht nur aushalten können, sondern als Ergänzung fordern. Das Kino ist definiert durch seinen großen dunklen Raum während der Vorführung und die soziale Interaktion drumherum, sowie durch das kuratierte cineastische Programm. Nur das Kino kann, was das Kino kann. Es muss mit seinen unersetzlichen Qualitäten auf allen Ebenen für die Auswertung von Kinodokumentarfilmen arbeiten – am besten, wenn möglich, in enger Kooperation mit einem Festival vor Ort. These Nr. 9: Die zeitgleiche Auswertung von Dokumentarfilmen im Kino und online bringt in der Summe mehr Zuschauerinnen und Zuschauer für jeden einzelnen Film. Alle Festivaltickets sollen in der Zählung der FFA erfasst werden, das Kinoticket genauso wie das Online-Ticket.
München, 27. Mai 2020
Zum Weiterlesen:
"Das Kino der Zukunft ist digital – so oder so"
ein Beitrag von Daniel Sponsel vom 17.06.20 auf critic.de