AG DOK - Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V.
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Film
Die Mediathek ist uns zu wenig!
vom 30.10.2015
AG DOK fordert in Leipzig:
Der Dokumentarfilm muss zurück ins Hauptprogramm
In einem waren sich Martina Zöllner, Kulturchefin des SWR, Claudia Tronnier, die Redaktionsleiterin des "Kleinen Fernsehspiels" im ZDF und Ingrid Gränz, Leiterin der Filmredaktion von ZDF-3sat, schnell einig: die Pflege des langen Dokumentarfilms gehört zum öffentlich-rechtlichen Programmauftrag, und alle drei Redakteurinnen würden sich natürlich über eine größere Wertschätzung des Genres in Programmplanung und Budgetzuweisung freuen. Doch der Redaktionsalltag im öffentlich-rechtlichen Fernsehgeschäft sieht leider anders aus.
Viel mehr als 10 Termine in der talkshowfreien Sommerzeit hat das ARD-Gemeinschaftsprogramm dem langen Dokumentarfilm nicht zu bieten, und im ZDF wird der Vorschlag, ein "Kleines Fernsehspiel" mal früher ins Programm zu nehmen, fast immer abgelehnt. Der reguläre Sendeplatz ab Mitternacht muss zudem ohne die sonst übliche Trailer-Werbung im Programm auskommen. Entsprechend zurückhaltend bleibt das Interesse der Fernsehzuschauer: Studenten bekannten bei einem Besuch in der Redaktion des des "Kleinen Fernsehspiels", dass diese Filmform sie kaum interessiert, und Claudia Tronniers Ausführungen mündeten in die sarkastisch-provokante Prognose, dass bei einer Fortsetzung dieser Haltung irgendwann einmal "mehr Leute Dokumentarfilme machen als sehen wollen..."
Nicole Leykauf
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Ingrid Gränz
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Claudia Tronnier
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Martina Zöllner
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Ist das nun die Ursache oder ist es die Wirkung einer jahrelangen systematischen Vernachlässigung des langen Dokumentarfilms in der Programmplanung? Lässt sich durch eine prominentere Programmierung das vermeintlich geringe Publikumsinteresse wieder herstellen? Muss sich das Fernsehen an Festivals wie DOK Leipzig orientieren, die es ja auch schaffen, den Dokumentarfilm zu einem hippen Event zu machen? Diese Fragen nahmen in der hochkarätig besetzten Diskussionsrunde, die sich auf Einladung der AG DOK zum Auftakt des Leipziger Dokumentarfilmfestivals den Perspektiven des langen Dokumentarfilms im deutschen Fernsehen widmete, großen Raum ein.
Für Martina Zöllner, wie Claudia Tronnier eine erklärte Verfechterin des Dokumentarfilms und insbesondere seiner langen Form, erfolgte der "Sündenfall" bereits mit der Einführung des Privatfernsehens in Deutschland. Die "gute alte Zeit", so ihr nüchternes Fazit, sei vorbei: "Der lange Dokumentarfilm in der prime-time kommt nicht wieder". Vor allem für kleine, unprätentiöse Alltagsbeobachtungen - eine angestammte Domäne des Dokumentarischen - werde der Weg in die öffentlich-rechtlichen Programme immer schwieriger, gefragt seien heute allenfalls die "großen Themen", deren Produktion allerdings auch immer teurer werde. Und während ein anderer Trend innerhalb der Sender längst zum "unterhaltsamen Dokumentarfilm" gehe, hafte vielen Produzenten dort immer noch der Ruf an, "der Markt sei ihnen wurscht". Aus der Sicht der Programmverantwortlichen seien die meisten Dokumentarfilme Minderheitenprogramme, die möglicherweise in den öffentlich-rechtlichen Mediatheken besser aufgehoben seien als im regulären Programm. Fazit der eingeladenen Redakteurinnen: "Die Sehgewohnheiten verändern sich..."
Eine so fatalistische Sicht auf die Chancen des Genres in den Sendern will die AG DOK nicht akzeptieren. "Sehgewohnheiten ändern sich nicht nur, sie werden auch verändert", kontert AG DOK-Vorsitzender Thomas Frickel. In dem Maße, wie der Dokumentarfilm aus den Hauptprogrammen vertrieben werde, schwinde auch das Interesse des Publikums, das dieses Genre nicht mehr kennt und deshalb auch nicht als eigenständige Filmgattung wahrnehmen kann. In gleichem Sinne äußerte sich auch die Münchner Produzentin Nicole Leykauf, die auf dem Podium die Sicht der Filmemacher vertrat. Es sei wichtig, die Zuschauer wieder daran zu gewöhnen, dass der Dokumentarfilm ein vielfältiger und interessanter Bestandteil des Fernsehangebots sei. Dazu brauche es einen regelmäßigen Sendeplatz an prominenter Stelle.
Für die AG DOK ist die Forderung nach besseren Sendeplätzen für den langen Dokumentarfilm deshalb weder rückwärtsgewandt noch "anachronistisch", wie es eine WDR-Redakteurin aus dem Publikum heraus unterstellte. Denn nach wie vor steht das lineare Fernsehen im Zentrum der Programmplanung, und nach wie vor entscheidet der vorgesehene Sendeplatz darüber, welches Budget ein Film zur Verfügung hat. Ein Abschieben ins Internet würde das Dokumentarfilm-Genre im Fernsehen vollends marginalisieren, fürchtet die AG DOK. "Wir wollen ja raus aus der Nische und nicht noch weiter rein", sagt Frickel. Und: "Schlecht finanzierte Filme können wir auch selbst ins Netz stellen - dazu brauchen wir dann eigentlich keine Sender mehr".
Wenn der Dokumentarfilm wirklich eine "tragende Säule des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags" ist - so, wie es die WDR-Rundfunkratsvorsitzende Ruth Hieronymi einmal formulierte, wenn er tatsächlich die "Königsdisziplin" des dokumentarischen Fernsehens wäre, dann müsste sich das auch in der Programmierung niederschlagen. Aber nicht ARD oder ZDF, sondern der Privatsender Pro 7 war es, der vor einigen Jahren Michael Moores Cannes-Gewinner-Film "Fahrenheit 9-11" kaufte, zur besten Sendezeit - nämlich an einem Samstagabend um 20.15 - ausstrahlte und damit an diesem Abend Marktführer wurde.
Der WDR hingegen sah sogar in der Produktion und Ausstrahlung von Sönke Wortmanns Fußball-Epos "Deutschland - Ein Sommermärchen" um 20.15 Uhr ein unwägbares Risiko, und obwohl die Sendung damals mit knapp 11 Millionen Zuschauern einen Marktanteil über 30 Prozent erreichte, kam in den seither verstrichenen neun Jahren keine Programmierung eines 90-minütigen Dokumentarfilms in der ersten prime-time mehr vor.
Dabei haben Dokumentarfilme - das zeigen diese Beispiele, das zeigen aber auch seine Erfolge im Kino und bei Festivals - durchaus das Potenzial, ein großes Publikum zu erreichen. Doch die Verantwortlichen von ARD und ZDF trauen ihm das offenbar immer noch nicht zu. Die Programmierung kurz vor Sendeschluss und in den Spartenprogrammen zeugt von einer Geringschätzung, die in der geringen Mittel-Zuweisung ihre Entsprechung findet.
Selbst 3sat, ein Programm, das Dokumentarfilme wenigstens am Sonntag um 21.45 Uhr ausstrahlt, kann sich Jahr für Jahr nur an der Produktion von zehn Dokumentarfilmen mit "künstlerischer Handschrift" beteiligen. Und etwa 10-12 Dokumentarfilme im Jahr gibt auch das "Kleine Fernsehspiel" in Auftrag. Allerdings sagte Claudia Tronnier in Leipzig zu, diese Filme künftig finanziell nicht mehr automatisch schlechter einzustufen als fiktionale Stoffe.
Aber wie könnten die Wege aus der Aufmerksamkeits- und Wertschätzungsfalle aussehen? Führen sie über ein besseres Marketing, wie es die Medienjournalistin Vera Linß als Moderatorin der Diskussionsrunde vorschlug? Alice Agneskirchner, die zweite Vorsitzende der AG DOK, plädiert stark dafür: der Dokumentarfilm braucht ein "branding", er muss zu einer Marke werden. Auch die politischen Talkshows seien bei ihrer Einführung ja nicht auf Anhieb ein Erfolg geworden, sondern sie liefen lange Zeit schlecht und mussten sich erst etablieren, erinnert sie. Warum sollte das im Fall des Dokumentarfilms nicht auch gelingen?
Ingrid Gränz empfahl zudem das Konzept thematischer Abende, mit denen 3sat hohe Aufmrksamkeitswerte erreicht habe. Auch die Aufmerksamkeit, die das Genre bei Festivals erfahre, zeige ja, dass über einen Event-Charakter manches möglich sei.
Dass die Dokumentaristen in den drei leitenden Redakteurinnen wichtige Verbündete haben, blieb in der Diskussonsrunde trotz gelegentlicher Hinweise auf die strukturellen Schwierigkeiten in den Funkhäusern außer Frage. Doch ebenso deutlich wurde, dass diese Interessenidentität allein den erhofften Umdenkprozess nicht anstoßen kann. Um das Ziel der AG DOK zu erreichen, in den Hauptprogrammen einen wöchentlichen Sendeplatz für den langen Dokumentarfilm zu etablieren, bedarf es weitergehender Unterstützung - zum Beispiel durch die Rundfunkräte.
Vielleicht führt eine Zwischenlösung über einen allgemeinen Sendeplatz für den Kinofilm, wie ihn ein breites Branchenbündnis ja auch schon seit Jahren vergeblich fordert. Denn auch der europäische Arthouse-Spielfilm hat im deutschen Fernsehen keinen besonders guten Stand...
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