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Sender

Jenseits des Jubels

Warum der europäische Kulturkanal ARTE nach 25 Jahren nicht so gut ist, wie er sein könnte

vom 20.06.2017

25 Jahre ARTE – sicher ein Grund zum Feiern. Aber jenseits des Jubels müssen auch kritische Zwischentöne erlaubt sein. AG DOK-Vorsitzender Thomas Frickel vermisst in der aktuellen Ausgabe des Medien-Magazins „promedia“ die frischen Ideen und Überzeugungen der wilden und mutigen Anfangsjahre - und er verweist auf organisatorische Konstruktionsfehler, die bis heute nachwirken.

Erschienen in pro media 7/2017:


Was Dr. Klaus Wenger als neu ernannter Leiter der Dokumentarfilmredaktion in Straßburg bei einem Treffen mit Dokumentarfilmproduzenten in Baden-Baden 1991 als ersten Einblick in die Programmgestaltung des geplanten deutsch-französischen Kulturkanals vortrug, klang wie die Beschreibung einer Traumwelt. Ein neuer, eigenständiger Fernsehsender namens ARTE werde vom kommenden Jahr an den Dokumentarfilm zu seinem Programmschwerpunkt erheben, es werde eine Vervielfachung der Produktion geben – und endlich werde es möglich sein, Dokumentarfilme im deutschen Fernsehen voll zu finanzieren!

Sollte das wahr sein? Ein Kulturkanal frei von politischen Vorgaben, frei von Quotendruck, allein dem kulturellen Auftrag und dem Gedanken der Völkerverständigung verpflichtet, experimentell, innovativ und - weil er durch einen Aufschlag zur Rundfunkgebühr bezahlt wurde - zudem finanziell völlig unabhängig.

ARTE schuf mit großem Elan Programm-Legenden

Anfängliche spöttische Bemerkungen über die medienpolitische Kopfgeburt Helmut Kohls und seines französischen Pendants Francois Mitterand verstummten schnell, als klar wurde: die meinen das ernst! Filmschaffende in ganz Europa schauten ungläubig, ja neidisch auf diese unerwartete Chance, die sich da zunächst für die deutsche und für die französische Produktionslandschaft auftat, und die tatsächlich einlöste, was im Vorfeld versprochen worden war: fast schien es, als sei das öffentlich-rechtliche Fernsehen noch einmal erfunden worden. ARTE schuf mit großem Elan Programm-Legenden wie zum Beispiel die „Thementage“, die später auch in andere Kanäle übernommen wurden. ARTE kümmerte sich um vergessene Filmgattungen wie den Kurzfilm, und der lange, unformatierte Dokumentarfilm, das „grand format“, wurde in der Tat so etwas wie ein Flaggschiff – Woche für Woche, das ganze Jahr über.

Der deutsche und der französische Blick auf die Wirklichkeit war nicht immer kongruent

Es war eine gute Truppe, die sich da in der Straßburger Redaktion zusammenfand, und wenn auch sehr bald deutlich wurde, dass der deutsche und der französische Blick auf die Wirklichkeit nicht immer kongruent war, machte diese Unterschiedlichkeit ja gerade den Charme der frühen Jahre aus. Viele namhafte Persönlichkeiten des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, gerade in Deutschland, outeten sich, nach ihren Fernseh-Präferenzen befragt, als ARTE-Fans. Ob das immer so stimmte, sei dahingestellt -aber es zeigt, dass ARTE trotz seines leicht elitären Images gleichzeitig einen exzellenten Ruf genoss. Der Name stand gleichsam synonym für Qualitätsfernsehen.
Und zwar trotz eines Geburtsfehlers, der von der Öffentlichkeit anfangs nur am Rande wahrgenommen wurde, der den Filmemachern und Produzenten dafür aber bis heute zu schaffen macht. Denn entgegen der ursprünglichen Versprechungen und auch anders als in Frankreich wurde aus ARTE Deutschland doch kein neuer und eigenständiger Sender, sondern der Kulturkanal wurde mit einem Federstrich zum Anhängsel des bestehenden öffentlich-rechtlichen Fernsehsystems in Deutschland erklärt – 50 Prozent der deutschen Programmzulieferung erfolgen durch das ZDF, 50 Prozent kommen von der ARD, und die wiederum sind penibel aufgeteilt nach dem so genannten „ARD“-Schlüssel, der dem WDR den größten Teil des Kuchens zuweist, während Radio Bremen nur die Brosamen bekommt.

Jeder Sender brauchte eine eigene ARTE-Redaktion

Mit der Folge, dass jeder Sender nun natürlich eine eigene ARTE-Redaktion oder zumindest ARTE-Beauftragte brauchte, für die aber keine gesonderten Verwaltungskosten abgerechnet werden konnten. Denn die Zuweisung der ARTE-Gelder an die einzelnen Sender folgt dem Volumen der jeweiligen Programmzulieferung, unterschieden nach Programmgattung und Sendelänge. Für ein Fernsehspiel gibt es natürlich mehr als für eine 30-minütige Reportage, aber alles ist so bemessen, dass die jeweiligen Programme damit auskömmlich finanziert werden könnten.
Theoretisch.

In der Praxis ziehen die deutschen Sender nämlich erst einmal ihre „Handlungskosten“ ab. Diese Abzüge sind unterschiedlich hoch, aber sie sind in jedem Fall erheblich.
Von den Geldern, die ARTE Deutschland für Programmzulieferungen bezahlt (und die ja, wie gesagt, eigentlich kostendeckend bemessen sind) kommt deshalb ein beträchtlicher Teil gar nicht erst bei den Produzenten an. Man könnte es auch drastischer formulieren: deutsche Produktionsfirmen, die für ARTE arbeiten, dürfen erst einmal selbst ihre Redakteurinnen und Redakteure bezahlen. Zumindest bei der ARD wird ihnen dann auch noch die Mehrwertsteuer vorenthalten, wodurch sich die Summe, die letztlich für die Produktion zur Verfügung steht, noch weiter reduziert. Wird der so produzierte unterfinanzierte Film dann auf Arte (oder in anderen Programmen) wiederholt, gibt es dafür natürlich keinen Cent extra – obwohl ARTE Deutschland auch für Wiederholungen gutes Geld an die Sender zahlt. Denn schließlich gehört der Kulturkanal ja zur Senderfamilie. Und wer wird denn innerhalb der Familie über Geld sprechen?
Auffälligstes Resultat dieser Verfahrensweise: wer in Deutschland für einen ARTE-Sendeplatz produziert, hat rund 40 Prozent weniger Geld zur Verfügung als sein französischer Kollege, wenn er das gleiche Stück in exakt gleicher Länge für den gleichen Sendeplatz anliefert. So viel zur Angleichung der Arbeitsbedingungen und sozialen Standards in Europa.

ARTE-Produktionen werden zur Finanzierung Dritter Programme eingesetzt

Besonders perfide werden diese Taschenspielertricks aber dort, wo ARTE-Produktionen auch noch gezielt und systematisch zur Umwegfinanzierung eigener, zumeist Dritter ARD-Programme eingesetzt werden. Angefangen hatte damit der NDR, dessen früherer Programmchef Kellermeier in einem schriftlichen Erlass verfügte, dass Arte-Produktionen des Senders auch im eigenen Programm verwertbar sein mussten. Zum Glück ist man gerade bei diesem Sender inzwischen wieder davon abgekommen, und die ARTE-Redaktion des NDR genießt im Kreis der ARD heute wohl die größten Freiheiten. Dafür prüft jetzt der Westdeutsche Rundfunk als größter ARTE-Zulieferer innerhalb der ARD bei jeder ARTE-Produktion die Verwendungsfähigkeit im eigenen Haus – und damit auch im (ziemlich provinziell ausgerichteten) Regionalprogramm WEST 3. Dass auch hier die Filmhersteller für die Mehrfachverwertung nichts bekommen, versteht sich leider von selbst. Welche Perversion des Ursprungsgedankens, mit dem ARTE einst angetreten ist!

Das Formatfernsehen lässt grüßen

Aber nicht nur die Zugriffe und Begehrlichkeiten der deutschen Sender haben die originäre ARTE-Idee ausgehöhlt – die Auguren des Kulturkanals haben selbst ihren Teil dazu beigetragen, als sie 2011 das Programmschema so umbauten, dass einige der profiliertesten Sendungen -und damit gleichsam ein Stück des Markenkerns- verschwanden: Themenabende und lange Dokumentarfilme wurden drastisch reduziert – angeblich, weil die Zuschauer sie als nicht mehr zeitgemäß empfunden haben. Künstlerportraits soll es fortan nur noch geben, wenn sie sich um -möglichst international- bekannte Künstler ranken. Und das Formatfernsehen -wenngleich noch in weichgespülter ARTE-Version- lässt grüßen. Jetzt sehen wir zum Beispiel täglich um 19.45 Uhr das Reportageformat „Re:“ – allerdings nur in Deutschland.
Die französischen Zuschauer sehen um diese Zeit etwas Anderes. Auch die ursprüngliche Einheit des Programms scheint sich immer mehr aufzulösen. Dass sich das alles mit Ergebnissen der Zuschauerforschung begründen lässt - nun gut. Schließlich laboriert ARTE ja schon seit Jahren daran, aus seinem konstanten Quotenloch von 0,9 Prozent herauszukommen.
Tatsächlich scheint der Marktanteil durch die geschilderten Reformen inzwischen auf 1 Prozent gestiegen zu sein. Na, herzlichen Glückwunsch! Wer in solchen statistischen Dimensionen aus einem Unterschied von 0,1 Prozent seriöse Schlussfolgerungen ableiten will, sollte sich sein Lehrgeld wiedergeben lassen. Außerdem sagen solche Zahlen -mal ganz abgesehen von ihrer fragwürdigen statistischen Signifikanz- nicht das Geringste über die Wirkung eines Programms, dass es immer wieder schafft, gesellschaftliche und politische Diskussionen anzustoßen und zu befördern. Gerade, weil es -und für einen deutsch-französischen Kulturkanal ist das ja kein sonderlich überraschender Befund- hauptsächlich von den Eliten gesehen wird.

Fazit

- Nach 25 Jahren schielt auch ARTE immer stärker nach der Quote und hat dafür ohne Not einen Teil seiner Unverwechselbarkeit aufgegeben.

- Nach 25 Jahren verstehen und benutzen deutsche Sender ARTE immer noch als Selbstbedienungsladen für ihr eigenes Programm.

- Nach 25 Jahren wird die Kluft zwischen der Bezahlung deutscher und französischer Produktionen immer tiefer.

Da wäre es doch an der Zeit, sich wieder einmal auf die Ursprünge zurückzubesinnen – so, wie es anlässlich des zehnjährigen ARTE-Jubiläums in einer Presseerklärung geschah:
„ARTE wollte und will festgefahrene Sicht- und Verhaltensweisen verändern, Sehgewohnheiten durchbrechen und nationale Barrieren überwinden. Für den Zuschauer heißt das qualitativ hochwertige europäische Produktionen statt amerikanischer Billigware. Neben Spiel- und Fernsehfilmen zeigt ARTE Informationen aus europäischer Sicht, Musik, Theater und Tanz, Dokumentationen und Dokumentarfilme. "Wir bieten Programme an, die sonst kaum mehr produziert werden", betont Verwaltungsdirektor Wolfgang Bernhard und denkt dabei vor allem an das Genre Dokumentarfilm.
Der Kultursender dient zudem europäischen Künstlern, Autoren, Regisseuren und Filmemachern als Forum. Kultur heißt dabei aber mehr als Museen und Kunstsammlungen. Kultur ist auf ARTE auch und vor allem auf offene, lebendige und originelle Weise die Welt entdecken, Interessen wecken, Neugier befriedigen. Und es ist ein anderer Umgang mit der Zeit: Zeit zum Zuhören, zum Verstehen, zum Sicheinlassen auf Unbekanntes. "ARTE bietet eine andere Art fernzusehen", sagt Bernhard. "Wir machen Prototypen", ergänzt Programmdirektor Victor Rocaries: "Jede Sendung ist etwas Einmaliges. Das ist die Stärke von ARTE, weil wir so sehr vielfältig sind..."

Hier finden Sie den Beitrag noch einmal im Original-Layout als PDF.

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