AG DOK - Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V.
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Pressemitteilung
Protest gegen Programmpolitik der ARD
Pressemitteilung vom 25.11.2010
vom 25.11.2010
"Thematische und visuelle Monokultur"
Am Montag, den 29. November 2010 wollen die Intendanten der ARD dem dokumentarischen Fernsehen im "Ersten" den entscheidenden Schlag versetzen: die Montags-Doku soll verschwinden, die gesellschaftliche Wirklichkeit unseres Landes findet, von marginalen Resten abgesehen, im Hauptprogramm der ARD fortan in den Privat-Studios von vier oder fünf hochbezahlten Talkmastern statt.
Gleichzeitig erklärt ARD-Programmchef Volker Herres, dass er einen regelmäßigen Dokumentarfilm-Sendeplatz für "töricht" hält und bekundet seine Sympathie für die Programm-Philosophie von RTL.
Wir finden, es reicht!
Aus diesem Grund hat die AG Dokumentarfilm allen Rundfunkratsvorsitzenden der neun ARD-Anstalten jetzt einen offenen Brief geschrieben. Nicht nur aus Sorge um künftige Arbeitsmöglichkeiten für zahlreiche Filmschaffende, sondern auch aus Sorge um die Folgen einer Programmpolitik, die ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag zunehmend aus dem Blickfeld verliert und damit die Grundidee des gebührenfinanzierten Rundfunksystems von innen heraus zerstört:
Offener Brief
an alle Rundfunkratsvorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands / ARD
Frankfurt am Main, den 24. November 2010
Sehr geehrte Damen und Herren,
ein weiteres Mal erbitten wir Ihre Unterstützung.
Wie Sie wissen, soll der letzte dokumentarische Programmplatz, der im "Ersten" noch zu einer halbwegs akzeptablen Sendezeit verblieben ist, der bevorstehenden Programmstruktur-Reform geopfert werden: die Montagabend-Doku soll ersatzlos verschwinden.
Es ist noch gar nicht so lange her, da liefen in der ARD so herausragende dokumentarische Programme, wie "Unter Deutschen Dächern", "Die Story" oder "Das rote Quadrat". Sie wurden mit Grimme-Preisen und anderen Auszeichnungen dekoriert und sind zum Inbegriff öffentlich-rechtlicher Programmqualität geworden. Für die ARD-Hierarchie hatten diese Ehrungen leider keine Bedeutung. Wegen zu geringer Marktanteile wurden die genannten Sendungen nach und nach aus dem Hauptprogramm der ARD verbannt oder eingestellt, der verbliebene Sendeplatz wurde thematisch weichgespült - und jetzt schafft man ihn ganz ab. Statt die Akzeptanz qualitativ herausragender Programme durch beharrliches Festhalten an solchen Formaten allmählich zu verbreitern, zieht die ARD ihr Niveau kontinuierlich nach unten und beschädigt damit ohne Rücksicht auf Verluste den eigenen Markenkern.
Die Kompetenz der ARD im Bereich des dokumentarischen Fernsehens, auf die man in den Funkhäusern früher einmal zu Recht stolz war, wird mit solchen Entscheidungen systematisch ruiniert. Die Chance, den Dokumentarfilm als unverwechselbares Markenzeichen der ARD zu etablieren und sich so von den privaten Anbietern des deutschen Fernseh-Marktes abzusetzen, wird vertan. Dabei müsste die Produktion und die Sendung von Dokumentarfilmen in ihrem Hauptprogramm doch eigentlich im Zentrum des öffentlich-rechtlichen Informations-, Bildungs- und Kulturauftrags stehen - denn hier würde mit Gebührengeld etwas geschaffen, was kein privater Fernsehveranstalter leisten kann.
Mit dem auf wenige kümmerliche Reste zurückgedrängten Dokumentarfilm geht dem Gemeinschaftsprogramm der ARD aber auch der genaue, sorgfältig recherchierte und hintergründige Blick auf die Wirklichkeit verloren, denn Talk-Shows können die sozialen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Dimensionen des dokumentarischen Fernsehens nicht ersetzen. Komplizierte gesellschaftliche Zusammenhänge werden nicht mehr "vor Ort" durchdrungen, sondern sie werden aus der Mitte der Gesellschaft herausgelöst und in die synthetische Welt der Studios verlegt. Allenfalls blitzen sie noch als zerfaserte Fragmente in kurzen Einspielfilmchen auf. Wichtige Themen werden nicht mehr analysiert, sondern selbstgefällig zerredet, aus der früher vorhanden gewesenen Vielfalt wird eine thematische und visuelle Monokultur, die sich bis zur restlosen Erschöpfung der Zuschauer um die immer gleichen Themen dreht. Immer häufiger muten uns die öffentlich-rechtlichen Talkshows inzwischen schon dreimal pro Woche das gleiche Thema zu - der Wille zur redaktionellen Gestaltung ist nicht mehr erkennbar. Wie denn auch - wurden doch alle ARD-Talkshows für zweistellige Millionenbeträge komplett und pauschal an die Produktionsfirmen der jeweiligen Talkmaster ausgelagert.
Wir fordern Sie daher auf:
Retten Sie uns! Retten Sie die unabhängige Dokumentarfilmproduktion in Deutschland, denn wenn sie im öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch weiter an den Rand gedrängt wird, werden viele Filmemacher, die mit erheblichen Steuermitteln an deutschen Filmhochschulen für eine berufliche Zukunft in der Film- und Medienbranche ausgebildet wurden, ihren Beruf aufgeben müssen. Das ist mehr als eine persönliche Entscheidung jedes Einzelnen – es ist ein struktureller Eingriff auf Kosten der inhaltlichen und künstlerischen Vielfalt in unserem Land.
Retten Sie auch die Fernsehzuschauer und Gebührenzahler vor Programm-Verantwortlichen, die unser öffentlich-rechtliches Fernsehen wie ihr Privateigentum behandeln und denen die Programmphilosophie von RTL, wie sie selbst unverblümt zugeben, näher steht als der öffentlich-rechtliche Programm-Auftrag! (Anmerkung 1 - siehe unten)
Und retten Sie die Grundidee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, bevor sie von einer kleinen Minderheit quotenversessener Technokraten an die Wand gefahren wird! Sowohl nach der Beihilfeverordnung der Europäischen Union als auch nach dem Rundfunkfinanzierungs-Gutachten von Prof. Paul Kirchhof dürfen Konzessionen an Massengeschmack und Einschaltquoten bei der Gestaltung öffentlich-rechtlicher Programme nämlich keine Rolle spielen.
Immer größer wird zudem der Finanzierungsanteil, den die Sender investieren, um ihr eigenes aufwändiges Systems am Leben zu erhalten. Dass immer weniger in das Programm investiert wird, kritisiert inzwischen selbst die KEF. Darunter leiden nicht nur die Filmemacher, Produzenten und Kulturschaffenden in diesem Land, weil ihre Arbeit immer miserabler bezahlt oder ganz aus den öffentlich-rechtlichen Programmen hinausgedrängt wird. Darunter leiden letztlich auch die Zuschauer und Gebührenzahler, weil der gesellschaftliche Mehrwert des hoch subventionierten Rundfunksystems sinkt.
Als kürzlich die Idee eines unabhängigen "Ältestenrats" zur Überwachung öffentlich-rechtlicher Programmqualität aufkam, haben mehrere Rundfunkratsvorsitzende das für überflüssig gehalten und auf die gut funktionierende Programm-Überwachung durch das bestehende Modell der Rundfunk-Aufsicht hingewiesen. Zwei Wochen später bietet sich nun an einem praktischen Beispiel die Gelegenheit zur Nagelprobe. Bitte nutzen Sie diese Gelegenheit! Zeigen Sie mit Ihrer Entscheidung, dass Ihr Einfluss auf die Programmentscheidungen nicht so gering ist, wie die Programm-Verantwortlichen der ARD offenbar glauben. Denn obwohl die Entscheidung erst am Montag kommender Woche getroffen werden soll, wird in den Redaktionen schon so gehandelt, als sei das Ende der Montags-Doku eine längst beschlossene Sache.
Wir zählen auf Sie!
Mit freundlichem Gruß,
für den Vorstand der AG Dokumentarfilm
Thomas Frickel
Vorsitzender und Geschäftsführer
Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm / AG DOK
Schweizer Straße 6
60594 Frankfurt/Main
Tel.: +49 - 69 / 62 37 00
Fax: + 49 - 6142 / 966 424
E-Mail: agdok@agdok.de
www.agdok.de
(Anmerkung 1)
ARD-Programm-Koordinator Volker Herres im Interview mit Chefredakteur Dieter Anschlag in Funk-Korrespondenz 41/2010:
FK: Jetzt eine völlig an der Realität orientierte, einfach zu beantwortende Frage oder anders gesagt, jetzt stelle mer uns mal janz blöd: Wann kommt endlich der Mut der ARD zu einem Programmplatz für den „Dokumentarfilm des Monats“: 90 Minuten auf einem Primetime-Sendeplatz im Ersten?
Herres: Die einfache Antwort: Das wäre kein Mut, das wäre töricht.
FK: Warum? Ihnen würde das höchste Lob aus den Feuilletons dieser Republik zufliegen.
Herres: Ja, nichts würde mich mehr erschrecken.
FK: Mit dieser Argumentation sind Sie jetzt auf einer Linie mit RTL-Chefin Anke Schäferkordt.
Herres: Nicht unbedingt die schlechteste Gesellschaft.