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"Emotionalisierung, Formatfernsehen & Affären - Quotenjagd im Sinne des Rundfunkstaatsvertrags?"

Panel-Bericht vom DOK.fest München 2019

vom 22.05.2019

Diskutanten (v.l.n.r.):
Dietmar Post (Regisseur, Produzent, Grimme-Preisträger)
Britta Windhoff (WDR, Redaktionsleiterin "die story" und "Menschen hautnah")
Dr. Thorolf Lipp - Moderation (Regisseur & Produzent, AG DOK Vorstandsmitglied)
Susanne Kurz, MdL (Mitglied des BR Rundfunkrates)
Dr. Paul Siebertz (Vorsitzender des ARD Programmbeirates)
Fritz Wolf (Medienjournalist)

Keynote:
Susanne Binninger (2. Vorsitzende der AG DOK)

Zum Podcast der Veranstaltung: podcast/dok-pod-der-podcast-des-dok-forum-munchen

„Die WDR-Casting-Affäre ist nur ein Symptom für ein strukturelles Problem der Sender“, stellte Susanne Binninger in ihrer Keynote zur AG DOK-Podiumsdiskussion auf dem DOK.fest München 2019 fest. Zur Vorbereitung auf die Veranstaltung „Emotionalisierung, Formatfernsehen und Affären – Quotenjagd im Sinne des Rundfunkstaatsvertrags?“ hatte sie bei einem Casting-Portal und einer Agentur aktuelle Protagonisten-Gesuche für dokumentarische Produktionen recherchiert, und dort auch Annoncen für Produktionen öffentlich-rechtlicher Sender gefunden, u.a. für eine ZDF-Reportage über Kinderarmut.

Vor allem in den formatierten dokumentarischen Sendungen funktionieren Protagonist*innen, die bestimmten Rollenklischees entsprechen. Gesucht und besetzt werden tendenziell soziale Typen, die diese vorgegebenen Erwartungen erfüllen, und möglichst emotional „darbieten“. Emotion wird in einem solchen Setting zu einer Währung, die Aufmerksamkeit generiert und garantiert, auf allen Ebenen. Denn alle Beteiligten in der Herstellung einer solchen Produktion müssen sich durchsetzen - die Protagonist*innen gegen andere, vor allem in einer Casting-Situation, die Filmemacher*innen gegen die zahlreichen Konkurrent*innen, die Redaktionen im Rennen um die Quote.

Susanne Binninger: „Die WDR-Casting-Affäre ist nur ein Symptom für ein strukturelles Problem der Sender“

Wenn dann noch der Wunsch nach dramaturgischer Zuspitzung durch Konflikte, Wendungen und Cliff-Hanger u.ä., hinzukommt, sensationelle Einzelschicksale statt komplexen Zusammenhängen bevorzugt werden, Filme in diesem Sinne vorab gescriptet werden, und Filmemacher*innen aufgrund ungenügender oder gänzlich fehlender Honorare für Posten wie Recherche und Stoffentwicklung unter großem ökonomischen Druck arbeiten müssten, „dann haben wir es“, so die 2. Vorsitzende der AG DOK weiter, „mit einem sehr verengten Blick auf unsere Gesellschaft zu tun“. Um den gesetzlich fixierten Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sender zu erfüllen, sei das höchste Gut Glaubwürdigkeit, die auf diesem Wege jedoch kaum zu erreichen sei.

Mehr Formatierung, weniger Wertschätzung

Zum Auftakt der anschließenden Diskussion stellte der Medienjournalist Fritz Wolf zentrale Ergebnisse seiner Studie „Deutschland – Doku-Land“ vor. Diese zeige, dass die Formatierung dokumentarischer Sendungen in den letzten 15 Jahren weiter zugenommen habe und inzwischen bei 75 bis 80 Prozent liege. Auf die Frage, was genau denn den Unterschied zwischen formatierten und nicht-formatierten dokumentarischen Produktionen ausmache, antwortete Wolf: „Dokumentarfilme versetzten die Zuschauer immer in die Lage, sich selbst eine Meinung zu bilden“, sie nähmen – anders als formatierte Dokus - die Rezipient*innen nicht an die Hand, sondern forderten sie zur inneren Mitarbeit auf und verlangtem nach intellektuellem wie emotionalem Engagement. Formatierte Dokumentationen hingegen dagegen nähmen den Zuschauer*innen tendenziell das Denken ab, indem sie z.B. mit der Hilfe eines allwissenden Erzählers Fragen sofort beantworteten, statt sie sich langsam entwickeln zu lassen, und indem sie auf schnelle Emotionseffekte statt auf behutsame Annäherung setzten.

Wolf führte weiter aus, dass es zwar eine Doku-Flut gäbe, aber es fehle in den öffentlich-rechtlichen Sendern grundsätzlich an Wertschätzung für das Genre Dokumentarfilm, was sich vor allem an geringen Budgets, den wenigen und sehr späten Sendeplätzen und dem Mangel an Werbung für das Genre deutlich zeige: „Warum bewirbt die ARD nicht mal einen Dokumentarfilm wie 'Kulenkampffs Schuhe' so wie 'Babylon Berlin'? Warum wird für diesen Typ Film nicht die Aufmerksamkeit geschaffen, die jeder Tatort erhält?“ Ein Problem liege auch darin, dass die Öffentlich-Rechtlichen den Zuschauern seit vielen Jahren den Dokumentarfilm vorenthalten, indem diese auf späte Sendeplätze verschoben würden. Primetime-taugliche Dokumentarfilme sollten endlich auch um 20:15 Uhr laufen und weil es da per se mehr Aufmerksamkeit gäbe, würde die Akzeptanz für das Genre automatisch ansteigen. Derzeit werde nach dem reichlich zynischen Motto verfahren: „Was der Zuschauer nicht (mehr) kennt, vermisst er auch nicht!“

Dr. Paul Siebertz, Vorsitzender des ARD-Programmbeirates, wich der anschließenden Frage des Panel-Moderators und AG DOK-Vorstands Dr. Thorolf Lipp aus, ob er es für angemessen halte, dass lediglich 2,7 Prozent des ARD-Budgets für dokumentarische Sendungen zwischen 26-90+ Minuten Länge ausgegeben werden. „Uns liegen Dokumentationen besonders am Herzen“, sagte er. Im Programmbeirat würde auch über eine Erhöhung der Budgets für das Genre nachgedacht, um Primetime-taugliche Filme zu ermöglichen. Aber die ARD erreiche nunmal nur sehr niedrige Quoten mit Dokumentationen und Dokumentarfilmen und man müsse auch über darüber sprechen, wieso das so sei. Wenn ein Film nur marginal wahrgenommen wird, dann werde der Programmauftrag nicht erfüllt – es müsse ein großes Publikum erreicht werden. Über Qualität müsse gesprochen werden. Es gäbe Kriterien dafür, etwa Wahrhaftigkeit, Relevanz, die handwerkliche Machart, die Dramaturgie. Aber auch die Sendeplatzdiskussion sei sehr wichtig für den ARD-Programmbeirat, der sich Montags um 20:15 Uhr einen festen Platz für Dokumentationen wünsche.

Britta Windhoff – WDR-Redaktionsleiterin von „die story“ und „Menschen hautnah“ – sagte dagegen: „Quote ist nichts, was uns ausschließlich beschäftigt.“ Zudem brächten auch formatierte Dokumentation die Menschen zum Nachdenken, das zeigten die vielen Kommentare, die die Filme regelmäßig in den sozialen Medien auslösten. Nicht immer sei das Fehlen eines einordnenden Kommentars ein Qualitätsmerkmal: „O-Ton Stücke sind nicht per se wertvoll; es gibt Filme, die brauchen Text.“ Und „natürlich zahlen wir die Recherche, das ist nicht üppig, aber es wird bezahlt, bei Eigenproduktionen immer, bei Auftragsproduktionen gibt es die Möglichkeit, Recherche über Produktionsvorbereitungsverträge zu bezahlen“, so Windhoff weiter. Das lineare Fernsehen verliere an Bedeutung, aber die große Nachfrage mit häufig genutzten Suchbegriffen wie „Doku“ auf youtube zeige, „es gibt ein Bedürfnis nach dokumentarischen Formaten.“ Nur suchten viele das nicht mehr im Fernsehen. Was die WDR-Produktionen angehe, sei inzwischen ein Prüfsystem eingeführt worden, um Fälle wie den auf einer Plattform wie Komparse.de gefundenen Protagonisten vor einigen Monaten in Zukunft zu vermeiden.

Filmemacher Dietmar Post griff die Thematik der Formatierung auf und stellte klar: „Form ist immer auch Inhalt.“ Es müsse auch Formate geben, denn es gibt Themen, die dort adäquat verhandelt würden. Aber: Formate orientierten sich häufig an Klischees, die oftmals nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätten. Er betonte: „Ich mache keine Filme 'über', ich mache Filme 'mit' Menschen.“ Die „offene Form“ verglich er mit Free-Jazz und improvisierter Musik, der einzigen Musikrichtung, so führte er aus, die von rechten Ideologen nicht mit ihren Inhalten gefüllt werden könne, weil es sich um eine auf den Dialog und auf das gegenseitige Zuhören setzende Machart handele. Die „offene Form“ (der Dokumentarfilm) versuche etwas herauszufinden und spürbar zu machen, während die „geschlossene Form“ (die Dokumentation) bereits wisse, was das Ergebnis sein solle. Zentrales Problem sei, so Dietmar Post, dass den Redaktionen nicht genügend Geld zur Verfügung stehe, weswegen die Filmemacher*innen weitere Geldquellen bräuchten. Doch diese wollten dann auch inhaltlich mitreden, aber „viele Köche verderben den Brei. Vor 20 Jahren konnte man noch von Auftragsproduktionen leben, das geht heute nicht mehr. Darüber sollte man erneut nachdenken, es müsste wieder klassische, vollfinanzierte Dokumentarfilm-Auftragsproduktionen geben“, forderte Dietmar Post.

Werte statt Quote

Susanne Kurz, Mitglied des Bayerischen Landtags für die Grünen und Mitglied im BR-Rundfunkrat, analysierte – auch als ehemalige HFF-Studierende – weitere Hintergründe der Formatierung: „In einem engen Korsett wird es schwierig, nicht mit Klischees zu arbeiten. Und wenn ich nur eine halbe Stunde habe, ist es schwieriger, bestimmte Dinge zu erzählen und dann wird es über Klischees gemacht.“ Wer zwei schlecht bezahlte Halbstünder im Jahr produzieren müsse, um seine Miete zahlen zu können, dem fehle einfach die Zeit. Sinnvoll, so Susanne Kurz, wäre die Gründung eines Gesamt-ARD-Rundfunkrats, um eine zivilgesellschaftliche Kontrolle des Senders zu ermöglichen, denn dies sei bislang nur in den einzelnen Rundfunkräten der Sender möglich, was aber kein Gesamtbild ergäbe. Sie plädierte leidenschaftlich für ein völlig neues Sendeformat außerhalb des analogen Fernsehens und der Mediatheken, „das europäische Werte propagiert“.

Dr. Paul Siebertz sagte zum Abschluss, dass die Diskussion ihn in vielen Punkten nachdenklich gemacht habe. Zukünftig brauche es zusätzlich eine Qualitätsdebatte, die sich allerdings noch entwickeln müsse, und sich an der Vermittlung von Werten zu orientieren habe: „Profil statt Format“.

Fritz Wolf mahnte an, dass ARD und ZDF in den nächsten Jahren viel dazu lernen müssten, weil deren Haltung gegenüber ihrem Publikum immer noch patriarchal von oben herab und eingleisig sei. Das müsse sich schnell ändern, denn da gehe es um die Existenzberechtigung der Sender und das gehe weit über die Legitimation durch Quoten hinaus. „Sie müssen sich öffnen und dafür haben sie nicht mehr viel Zeit, sonst könnte es schon zu spät sein, um die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen zu sichern.“

Moderator Dr. Thorolf Lipp schloss mit der Aufforderung den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemeinsam weiterzuentwickeln; er sei ein wertvolles „Geschenk an die Gesellschaft“ und gerade in Zeiten des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit ein unverzichtbarer Garant für die Vermittlung von demokratischen Grundwerten und die Weiterentwicklung einer selbstbewussten, aufgeklärten und zukunftsfähigen bürgerlichen Gesellschaft.

 

Fotos: DOK.fest München

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