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Media policy
ARD und der Dokumentarfilm: Versprechen zahlt sich nicht aus
from 23.07.2015
Die ARD hat wieder einmal die Gelegenheit vergeigt, in ihrem Kernbereich Profil zu gewinnen. Statt den Rückzug von Günter Jauch aus der ARD zu nutzen, um dem Dokumentarfilm endlich wieder mehr Raum zu geben, setzen die Programmverantwortlichen auf noch mehr Fiktion. Und das, obwohl fiktionale Sendungen schon jetzt über 36 Prozent des Gesamtprogramms füllen. Zur Hauptsendezeit sind es sogar 43 Prozent! Zum Vergleich: der Anteil dokumentarischer Sendungen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken und dümpelt irgendwo im einstelligen Bereich.
Für die AG Dokumentarfilm / AG DOK, den großen Berufsverband der unabhängigen deutschen Dokumentarfilmschaffenden, fügt sich diese Programmentscheidung bruchlos in das System der Geringschätzung, mit der der Senderverbund das Dokumentarfilmgenre seit Jahren in die dritte Reihe verweist. Sowohl in der Zuweisung von Finanzmitteln als auch bei der Vergabe von Sendezeiten ist wenig davon zu spüren, dass es sich hier um eine zentrale Säule des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags handelt. „Dauernd wird in vollmundigen Sonntagsreden das Engagement der ARD für den Dokumentarfilm schöngeredet, aber die Praxis sieht leider ganz anders aus,“ ärgert sich AG DOK-Vorsitzender Thomas Frickel, der den ARD-Verantwortlichen in diesem Zusammenhang Wortbruch vorwirft.
Denn als die AG DOK im November 2010 die Ausweitung ihrer öffentlich-rechtlichen Talk-Runden auf Kosten dokumentarischer Sendeplätze kritisierte, kam von Seiten der Sender sofort ein entschiedenes Dementi: „Fakt ist: Es wird nicht eine einzige Doku im Mengengerüst weniger geben,“ versicherten die damalige ARD-Vorsitzende Monika Piel und ARD-Programmdirektor Volker Herres beinahe wortgleich in mehreren Interviews.
Peinlich für die Glaubwürdigkeit der ARD-Verantwortlichen: diese Ankündigung war falsch!
Quelle: Programmberichte 2010-2014 - In Auftrag gegeben von den Landesmedienanstalten
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Die Programm-Berichte der Landesmedienanstalten belegen, dass der Anteil dokumentarischer Sendungen im ARD-Programm seit 2009 drastisch gesunken ist – von einstmals 7,3 Prozent des Programms im Jahre 2009 auf nur noch 2,9 Prozent im Frühjahr 2014! Zwar blieben Zoo-Dokus und ähnliche Formate bei dieser Rechnung unberücksichtigt, doch der Trend ist klar erkennbar. Umso mehr, als die Sendefläche für Talk-Formate im gleichen Zeitraum um 3,2 Prozentpunkte nach oben schnellte.
Doch selbst, wer die neutrale Programmbeobachtung der Landesmedienanstalten ablehnt und sich statt dessen lieber auf die ARD-eigene Programm-Statistik der Zeitschrift „Media Perspektiven“ verlässt, findet diese Entwicklung bestätigt: In Sendeminuten gerechnet, schrumpfte die Programmsparte „Reportage/Dokumentation/Bericht“ allein von 2012 bis 2014 von ehemals 145 auf nunmehr 122 Minuten pro Tag – faktisch wurde also jeden Tag ein so genannter „Halbstünder“ eingespart!
Obwohl die sendereigene Statistik offenbar aus Angst vor vergleichbaren Daten nahezu jedes Jahr die Erfassungskategorien ändert und dem dokumentarischen Genre inzwischen auch die „Wettermeldungen“ zuordnet, lässt sich der Abwärtstrend nicht mehr kaschieren: der Anteil solcher Sendungen am Gesamtprogramm der ARD sank seit 2010 von 9,5 auf 8,5 Prozent – genrebezogen ist das ein Rückgang von mehr als 10 Prozent.
Im gleichen Heft der „Media-Perspektiven (3/2015) zieht der Medienwissenschaftler Udo Michael Krüger eine ernüchternde Bilanz für die gesamte öffentlich-rechtlich Informations-Kompetenz: „Im Vergleich zum Vorjahr änderte sich das Spartenprofil der ARD; und zwar sank der Informationsanteil um 4,5 Prozentpunkte (-65 Minuten täglich). Davon profitierten im Gegenzug hauptsächlich die Sparten Fiction und Sport, die jeweils 28 Minuten Sendezeit pro Tag hinzugewannen.“
Führen diese Erkenntnisse innerhalb der ARD nun zu irgendwelchen Konsequenzen oder gar zu einem Umdenken? Fehlanzeige! Dabei ist doch seit Jahren bekannt, dass Dokumentationen nicht nur das Herzstück des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags, sondern auch die unangefochtenen Favoriten in der Publikumsgunst sind:
Am liebsten Dokus
Hamburg. Angesichts der Einschaltquoten von Fußballübertragungen, Talk- und Quizshows ist es kaum zu glauben: In einer repräsentativen Emnid-Umfrage im Auftrag der TV-Zeitschrift "Bildwoche" gaben 30 Prozent der 1004 Befragten an, dass Dokumentationen, Magazine und Reportagen ihre Lieblingssendungen seien. Gefolgt von Nachrichten mit 17 Prozent. Erst dann folgten Spielfilme und Fernsehfilme (13 Prozent), Sportsendungen (10 Prozent) sowie Musik- und Unterhaltungsshows mit 8 Prozent.
Quelle: Hamburger Abendblatt
Selbst wenn man, wie die „Media-Perspektiven“, die Fragestellung etwas variiert und Mehrfachnennungen zulässt, spielt der Dokumentarfilm in der Oberliga der beliebtesten Programmangebote mit: und zwar knapp hinter Spielfilmen und Krimis und weit vor Sportsendungen und Talkshows:
Quelle: Angela Rühle: Programmprofile zwischen Markt und öffentlichem Interesse. Media Perspektiven 11/2012, S. 555 ff. - Sendungen, die besonders gern/gern gesehen werden.
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Hoffnungslos überbewertet: die Programm-Sparte „Sport“
Nur etwas mehr als die Hälfte der Zuschauer entscheidet sich für Sportsendungen. Auch diese Zahlen legen ganz andere Schlüsse nahe, als sie in den Chefetagen der Sender gezogen werden. Denn Sportrechte und Sportübertragungen verschlingen – in den letzten Jahren übrigens nahezu unverändert – mehr als ein Viertel des Programmbudgets des „Ersten“, füllen aber dort nur acht Prozent der Sendefläche:
Sport im ERSTEN
ca. 8% Programmanteil
Kosten: 450 Mio. Euro (über 27% des Etats des ERSTEN)
Quelle: 18. KEF-Bericht
In diesem Zusammenhang verweisen wir auf eine interessante Berechnung, die Langer Media-Consulting unter Verwendung offiziellen Zahlenmaterials im Auftrag der AG DOK angestellt hat:
Vor einigen Jahren haben ARD und ZDF für die Lizenzsumme von 116,87 Mio Euro die Rechte an 31 Spielen der Fußball-Europameisterschaft 2012 erworben – pro Spiel (das nach Sepp Herberger bekanntlich 90 Minuten dauert) wurden also 3,77 Millionen Euro bezahlt. Das entspricht einem Minutenpreis von knapp 42.000 Euro.
Die AGF/GFK ermittelte eine durchschnittliche Sehbeteiligung für die Spiele, die von der ARD übertragen wurden, von 15,03 Mio Zuschauern.
Quelle: AGF/GfK; TV Scope, Fernsehpanel (D+EU)
Preisfrage:
Wie viele Zuschauer wurden durch den Einsatz von einem Euro Sender- bzw. Gebührengeld erreicht?
Antwort:
Mit jedem investierten Euro erreichten die Sender bei der Übertragung der Fußball EM 2012 durchschnittlich 3,45 Zuschauer!
Zum Vergleich:
Die (beliebig ausgewählte) ARD-Reportage "Wenn Eltern versagen" (NDR), 30min. Budget: 48.600 Euro, hatte 3,02 Mio Zuschauer. Das ergibt (noch ohne Berücksichtigung möglicher Wiederholungen) ca. 62 (zweiundsechzig!) Zuschauer pro investiertem Euro.
Allein diese beispielhaft ausgewählte Produktion war in der Mittelausschöpfung bzw. in der Zuschaueransprache also mehr als 15mal effizienter als der Erwerb der Fußball-Lizenz!
Dokumentarisches erst um Mitternacht?
Das Gutachten des Heidelberger Verfassungsrechtlers Prof. Paul Kirchhof, das Grundlage der Umstellung der seitherigen Rundfunkgebühr auf die allgemein verpflichtende Haushaltsabgabe war, betont die Bedeutung eines öffentlich finanzierten und damit frei zugänglichen Rundfunksystems, das die Menschen an der öffentlichen Debatte einer modernen Demokratie, an der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, an allgemeiner Kultur und Unterhaltung, an allgemein zugänglichen Quellen der Information teilhaben lässt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, so Kirchhof, müsse seine Angebote an diesen Zielen und nicht am Publikumsgeschmack orientieren. Anders gesagt: Er hat nicht die Aufgabe, möglichst viele Menschen hinter einem einzigen Angebot zu versammeln, sondern er muss die Vielfalt unserer Gesellschaft in Angeboten für möglichst viele Menschen abbilden.
Die derzeit übliche Quotenmessung und das Denken in Marktanteilen läuft dieser Grundidee zuwider, denn es sagt nichts über die tatsächliche Reichweite einer Sendung und noch weniger über Akzeptanz und Wirkung eines Programmangebots aus.
Deshalb ist es nicht akzeptabel, dass gesellschaftlich wichtige Dokumentationen oft erst zu Zeiten programmiert werden, zu denen die Mehrzahl der potentiellen Zuschauer schon zu Bett gegangen sind.
Die unten wiedergegebene Verlaufskurve zeigt, dass nach 21.30 Uhr und noch massiver dann nach 22 Uhr die Sehbeteiligung rapide abnimmt. Ein Marktanteil von 10 Prozent erfasst zur Primetime um 21 Uhr also noch 3,2 Millionen Menschen, während trotz eines gleich hohen Marktanteils um 23.30 Uhr nur noch 1,2 Millionen erreicht werden. Ein öffentlich finanziertes Medium, das einen klar definierten Informations-, Bildungs-, Beratung- und Kulturauftrag zu erfüllen hat, darf deshalb gesellschaftlich wichtige Inhalte nicht immer nur in die späten Nachtstunden abschieben und die Hauptsendzeit allein der Unterhaltung widmen, obwohl sie auch ein Bestandteil des Funktionsauftrags ist. Aber eben nur ein Bestandteil unter vielen – und keineswegs der Wichtigste.
Inzwischen hat die ARD in einer Presse-Mitteilung auf unsere Vorwürfe reagiert. Allerdings nicht sehr überzeugend, wie wir hier nachweisen.