AG DOK - Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V.
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Klaus Wildenhahn (1930 – 2018)
A Man of Many Parts – ein Nachruf von Rainer Komers
from 13.08.2018
Klaus Wildenhahn, geboren 1930 in Bonn, geprägt durch die Städte Berlin, London und vor allem durch Hamburg mit seinem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, schreibt über seine Genese als Dokumentarist:
„Wenn man so will, haben sich in Hamburg für mich die Umrisse einer profanen Erzählweise aus dem Beginn der introvertierten, zögerlichen Schreibe heraus entwickelt. Viele Zufälle.
Aber: ich habe Glück hier.“[1]
Frühschicht
Wir warten in den leeren Wegen der ausgehenden
schieferfarbenen Nacht. Wir warten.
Wir verhalten den Laut unserer Schritte
auf dem hölzernen Gerüst von S-Bahntreppen
und auf Straßen früh.
Wir wachen
unter dem schaukelnden Licht der Bahnsteiglampe
eine kleine Viertelstunde
die stille Stunde des Tages in der
von der Dämmerung her
die erste Waschung sich in unsere Augen tastet.
Von fern
durch den Grund der Stille
schellt der erste Weckerschlag der Stadt
ein Zug
in seinen metallenen Gleisen. [2]
Mit Gedichten wie Frühschicht, die er während seiner Zeit als Pfleger in einer Londoner Nervenheilanstalt geschrieben hatte, bewarb sich Wildenhahn, 29 Jahre alt und Mieter im Haus von Tante Elsa in Hamburg, bei einem Produzenten der „Fernsehlotterie“. Die Spots, die er dort realisieren half, führten ihn weiter zum NDR, erst als Realisator, der journalistische Stories in Bilder umsetzte, dann als festangestellter Redakteur, der seine eigenen Filme machte.
Ein Erweckungserlebnis, das sein ganzes weiteres Leben prägte, war die Begegnung mit Richard Leacock, einem Pionier des ‚direct cinema’. Zusammen mit Albert Maysles, Robert Drew als Produzent und D.A. Pennebaker als Editor hatte Leacock1960 „Primary“ gedreht, einen stilbildenden Dokumentarfilm über den Wahlkampf von Kennedy gegen Humphrey.
Den anfangs spektakulären Filmen der Drew Associates und ihrer Methode hat Klaus Wildenhahn den nachkriegsdeutschen Blick eines intellektuellen, sozial hellwachen, behutsamen Menschenfreunds hinzugefügt, der vor allem denen Gesicht und Stimme geben wollte, die vom Mainstream – bewusst oder unbewusst – übergangen wurden. Mit dieser Haltung machte er 1975/76 zusammen mit Gisela Tuchtenhagen (Kamera) „Emden geht nach USA“, ein vierteiliges Werk über Aktionen und Reaktionen von Arbeitern und Vertrauensleuten bei VW Emden. Nachdem dort die Errichtung eines Zweigwerks in den USA bekannt worden war, stieg die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen.
Die Emden-Serie und der fünfte Ostfriesland-Film „Im Norden das Meer – Im Westen der Fluß – Im Süden das Moor – Im Osten Vorurteile“, der u.a. das ehemalige KZ Esterwegen zeigt, werden Gegenstand einer von ostfriesischen Honoratioren gesteuerten Hetzkampagne. Der NDR, sein Arbeitgeber, knickt ein, produziert einen ‚ausgewogenen’ Ostfriesenfilm und verbannt Wildenhahn aus dem ersten ins dritte Programm. Durch diese Degradierung fühlt er sich so getroffen, dass er für mehrere Jahre zum WDR nach Nordrhein-Westfalen wechselt.
In Mülheim an der Ruhr entdeckt er den Lyriker und Bandonionspieler Günter Westerhoff, mit dem er drei Filme macht. Er engagiert sich im Auswahlgremium der Duisburger Filmwoche und bei der Gründung der ag dokumentarfilm. Als Mitinitiator der Duisburger Gruppe „Gewerkschaft und Film“ entwickelt er die Idee zu „Tor 2“, einem Solidaritätsfilm zum Stahlarbeiterstreik um die 35-Stundenwoche: Beobachtung einer eiskalten Silvesternacht 1978//79 am Tor 2 der Mannesmann Hüttenwerke in Duisburg-Huckingen. Das Ausgangsmaterial des unabhängig produzierten Films sind 30 Rollen Super 8-Material, Tonbänder, Fotofilme. Es ist meine erste Kameraarbeit mit Klaus Wildenhahn.
Über sein filmisches Handwerk schrieb er im November ´75:
"Für mich ist Form – in Gedichten nur scheinbar anders als im Dokumentarfilm –,umgehen zu wollen mit einer bestimmten Art, Metaphern einzusetzen, zu rhythmisieren, sich bestimmten Inhalten zuzuwenden. Die haben bestimmt immer etwas zu tun mit Situationen von Leuten, die in der Arbeit stehen; aber nicht so politisch gefaßt, sondern in einem Sinne, wie ich es selber zutiefst erfahren habe in Situationen, wo man sich isoliert, vereinsamt, verlassen vorkommt, in der Fremde eben so vorkommt." [3]
"Originalton und Filmmontage sind inzwischen zu meinem Metier geworden. Ich befasse mich mit der Aufnahme von Geräuschen und spontaner Rede, von langen Beobachtungen, die sich dem Zufälligen widmen, dem plötzlichen Einfall, milder Aufnahme von Szenen, die nur einmal so ablaufen und sich nie mehr wiederholen; Arbeitsverrichtung, Erzählung, Pause, manchmal Musik. Hochempfindlicher 16 mm Film und Magnettonband, der Tanz von Schulterkamera und Mikro. Mindestens zwei weitere Leute machen mit: Kameramann/frau und die Schnittmeisterin. Drei Leute bearbeiten eine Filmgeschichte. Kein isolierter Prozess. Unsere gesprochene Sprache kommt mir nicht mehr unbeholfen vor.
Richtig zuhören ist Teil meines Handwerks geworden." [4]
Richtig schreiben auch. Wildenhahn ist einer der ganz wenigen Autoren, die für den Film schreiben und ihren Text selbst sprechen können. Sprache hat ihn sein ganzes Leben begleitet, auch bei seinem letzten großen Projekt „Der Körper des Autoren“, das er so skizziert:
"Es gibt ein paar Texte über Film, die mich in den letzten 2 Jahren angeregt haben; daraus resultierten Notizen auf unübersichtlich verstreuten Blättern, Gespräche mit aufmerksamen Menschen. Das flog vorbei und irgendwann war dabei die Idee, einige der Dokumentarfilme sich anzusehen. Teilweise kannte ich sie, wollte sie wiedersehen, einige kannte ich nicht. Die Texte hatten mich hochgradig neugierig gemacht. So wie Texte das können. Ich habe an ihnen gesaugt: das wäre nicht falsch zu sagen.
Also möchte ich es probieren; eine Anordnung von Vorführungen, die nur teilweise historisch ist, eher der Versuch die Filme und ihre Autoren räumlich nebeneinander zu betrachten. Der illusionäre Raum soll durch Wortbeiträge hergestellt werden, das ist die Absicht: meine und durch von mir ausgesuchte Zitate aus den erwähnten Texten. Vielleicht eine Demonstration wie tiefliegende Besessenheiten zum Ausdruck drängen, konditioniert durch zeitgemäße Technologie und durch ein zeitgemäßes Klima von Dringlichkeiten." [5]
Der so einfache wie komplexe und rätselhafte Titel „Der Körper des Autoren“, den Wildenhahn seiner Anthologie von überwiegend klassischen Dokumentarfilmen und lyrischen Texten voranstellt, ist programmatisch. Er bezeichnet mögliche Stellungen des Filmautors im Geflecht der Aneignung von Realität(en). Dabei kreist er um seine Protagonisten wie der Planet um die Sonne. Er kann nicht verloren gehen, aber er kann sich verlieren im Kraftfeld passiver Anziehung und reflektierter Energie.
Zwei Dinge vor allem haben Klaus vor solchem Selbstverlust bewahrt: seine Herkunft als Literat und ein anarchischer Widerstand, mit dem er sich dem Geschäft mit den Attraktionen verweigert, und der ihn dort nach Stoffen suchen lässt, wo sich Anziehungs- und energetische Kräfte relativieren, hinter den Schlagzeilen, im Alltag.
Seine Faszination für den Alltag einfacher Menschen teilt er mit seinem amerikanischen Freund Richard Leacock und den Meistern der britischen Dokumentarfilmschule Harry Watt, Basil Wright und Humphrey Jennings. "Humphrey Jennings was a man of many parts: a student of the critic William Empson, a surrealist painter, an imagist poet, an essayist, a broadcaster, a critic, and a man deeply interested in the condition of England." [6]
Wie Jennings ist Wildenhahn „a man of many parts“: Lyriker, Filmerzähler und Tonmeister, Filmdozent, Filmessayist, Filmtheoretiker und weltoffener Denker, ein Mann mit tiefer Empathie für Menschen aus vielen Berufen und Schichten.
Im Rückblick auf seine Filme sieht er jedoch die Tendenz, sich selbst in den Körpern seiner Protagonisten verloren zu haben, den Spiegel zu obsessiv vor dem Bauch statt auch mal im Bauch getragen zu haben, und provozierend bezeichnet er seine Filme als „langweilig“. Die sind wie er selbst „of many parts“, das macht ihre Reichhaltigkeit aus, macht sie anregend und angstfrei. Die Filme sind offen gebaut und jazzig, ideologiefern und designfremd, wirken improvisiert durch einen auch spielerischen Umgang mit schierer Gegenwart.
und stehen geblieben die
Lesezeit
Langeweile
das späte Sonnenlicht verbeult
ohne Trost
überzogene Sätze
Wie vielleicht
ähnlich
die Stimme von Marlowe
Detektiv
im Verließ
seiner staubigen Ewigkeit [7]
Zusammen mit Gisela Tuchtenhagen und MitstreiterInnen gründet Klaus Wildenhahn 1998 in Hamburg die Werkstatt „Dokumentarisch Arbeiten“. In ihrem Eppendorfer Schneideraum diskutieren Mitglieder und Freunde Filme, an denen sie gerade arbeiten, oder Filme, die sie für wichtig halten. Gisela schreibt uns am 10. August 2018:
Ihr Lieben, einige von euch wissen es schon, gestern ist Klaus gestorben. Kurz drauf das Gewitter …
Ich war erst mal ganz froh, dass er den Übergang so schnell geschafft hat. Jetzt bin ich traurig.
Unsere Treffen „Dokumentarisch Arbeiten“ bleiben.
Eure Gisela
2000 macht Wildenhahn als Pensionär seinen letzten Film: „Ein kleiner Film für Bonn“ (Produktion: Dieter Reifarth, Redaktion: Inge Classen). Der Bundestag und die Regierung sind aus Bonn weggezogen, zurück bleiben namenlose Dienstleistende, Fahrer, Kellner, Saaldiener, Sekretärinnen, die den Apparat aufrechterhalten haben.
„Noch einmal Augenzeuge sein, aber nicht notwendigerweise Zusammenhänge verstehen ...“.
Ein Abschied, aber nicht notwendigerweise wehmütig.
Helmut Herbst, ein weiterer Monolith des westdeutschen Nachkriegsfilms, fasst es für uns Weggefährten und Freunde zusammen: „Kopf hoch Leute und vertraut nur auf euch, diese Filmpioniere – diese alten Frauen und Männer – konnte es nur einmal geben.“
Und jetzt auf zum gemeinsamen Abendbier in flacher Gegend.
von Rainer Komers
--
[1] Klaus Wildenhahn, Abendbier in flacher Gegend, Verbrecher Verlag, 2015, S. 40
[2] ebd., S. 29
[3] Egon Netenjakob, Liebe zum Fernsehen, Verlag Volker Spiess, 1984, S. 69
[4] Abendbier in flacher Gegend, S. 39
[5] Klaus Wildenhahn, Der Körper des Autoren, Filmwerkstatt Münster, 2004, S. 6
[6] Programmheft der Filmwerkstatt Münster zu „Der Körper des Autoren“
[7] Klaus Wildenhahn, Imperfekt, 2000
Foto: Paul Hofmann
Hier der Nachruf in der TAZ.
Und der Nachruf im Tagesspiegel.
Und in der FR.