AG DOK - Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm e.V.
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Film
Was erwartet uns in den kommenden Jahren? Ein paar Gedanken zu internationalen Märkten und Festivals
Von Björn Jensen
from 11.05.2021
Seit einigen Jahren lassen sich tiefgreifende Veränderungen in der Branche erkennen. Bereits vor Corona gab es Veränderungen im Nutzungsverhalten der Konsumenten. Ihre Ausgaben für Medienkonsum nahmen stetig zu, aber der Anteil des Home Video Marktes nahm zugunsten eines stetig wachsenden VOD Marktes kontinuierlich ab. Auf Seiten der Hersteller müssen immer mehr ProduzentenInnen einen wachsenden Teil ihrer Produktionen über internationale Partner finanzieren, weil die Produktionskosten im eigenen Land nicht oder nur noch teilweise zu decken sind. Das liegt zu einem guten Teil daran, dass die öffentlich rechtlichen TV Sender (ÖR), die zumindest in Europa immer ein wichtiger finanzieller Partner für die Produzentenlandschaft waren, vor allem für den Dokumentarfilm zusehends andere Prioritäten setzen. Internationale Koproduktions- und Pitching Events, wie Hot Docs, Sheffield, Idfa, Sunny Side of the Doc und andere, nehmen daher eine wachsende Bedeutung in der Finanzierung eines Dokumentarfilmes wahr. Zudem ist es für Dokumentarfilmschaffende wichtig, den Markt zu kennen, für den sie produzieren. Es geht darum, die Präfenrenzen einzelner Redaktionen zu kennen, ein Gespür für international interessante Themen und Storytelling zu entwickeln.
Übernahme von Reisekosten und Akkreditierung
Die meisten europäischen und viele andere Länder unterstützen konsequenterweise ihre ProduzentenInnen in der Entstehungsphase eines Filmes und finanzieren die Reise- und Akkreditierungskosten zum Teil erheblich mit. In Deutschland gab es bis vor einigen Jahren einen bescheidenen Zuschuss, inzwischen findet so eine Unterstützung nicht mehr statt, und deutsche Dokumentarfilmschaffende finden sich beim Development Support im unteren europäischen Drittel wieder, wie eine Studie des European Documentary Network und der AG DOK 2016 feststellte. Dabei war dieser Zuschuss nie besonders hoch. Zum Vergleich: Die Unterstützung, die eine einzelne australische Filmproduktion für einen Pitchingevent in China erwarten konnte, war höher als das Budget der ganzen deutschen Delegation. Die AG DOK bemüht sich seit Jahren darum, eine effektive Reisekostenfinanzierung wieder herzustellen, um deutschen Dokumentarfilmschaffenden wenigstens eine Basishilfe in einer, für den Erfolg ihrer Projekte wichtigen Entwicklungsphase zu ermöglichen.
Der Konkurrenzdruck steigt. Immer mehr Filme werden international produziert. Für HerstellerInnen wird es schwieriger, Projekte zu finanzieren, und für die KonsumentenInnen wird es schwieriger, sich in der zunehmenden Flut weltweit verfügbarer Angebote zurecht zu finden. Festivals erfüllen hier eine wichtige Filter- und Orientierungsfunktion. Sie geben Projekten und fertigen Filmen ein Forum, regen zu Diskussionen an, bieten für die Presse kommunizierbare Events, schaffen Treffens- und Erlebensräume und stellen einen wichtigen Baustein in der Entwicklung eines Filmes dar, sofern sie für einen relevanten und ausreichend großen Industry Market stehen.
Profiteure der Pandemie
SVOD Plattformen wie Netflix, Amazon, Disney und andere werden zu einer immer größeren Konkurrenz für das lineare Fernsehen. Gleichzeitig entdecken ÖR Sender, dass das jüngere Publikum dem linearen Fernsehen immer weniger abgewinnen kann. Wenn das Programmangebot überhaupt noch das junge Publikum erreicht, dann meist als Stream über die Mediathek. Arte hat einige Sendungen, die nach eigener Aussage mehr Zuschauer über die Mediathek als über das lineare TV erreichen. Was bedeutet das wohl für die Zukunft des linearen TV? Die Umsätze der weltweiten SVOD Plattformen hatten bereits schon vor Corona die der PayTV Sender überholt, aber Corona hat das ganze noch einmal beschleunigt. Während weltweit monatelang Kinos geschlossen waren, machten die SVOD Plattformen gigantische Gewinne, unter anderem auch, weil Studios Kinostarts ausfallen ließen und die Erstauswertung ihrer Filme auf angeschlossenen Plattformen erfolgte. Laut des Informationsdienstes DTVE hat der Marktführer Netflix inzwischen über 203 Millionen Abonnenten und konnte seinen operating profit in 2020 um 76% auf 4,6 Milliarden US Dollar steigern. Amazon Prime hat 137 Millonen Abonnenten erreicht und die chinesischen VOD Plattformen iQiyi, Tencent Video und Youku zusammen etwas unter 300 Millionen Abonnenten. Der Gewinner des letzten Jahres ist aber Disney +, der die Anzahl seiner Abonnenten auf 95 Millionen ausbauen konnte und damit sein 4-Jahresziel bereits nach 14 Monaten erreicht hat. Laut Researchandmarkets.com werden in 2025 ein Drittel aller Haushalte mindestens einen SVOD Service abonniert haben.
Gleichzeitig wurden 2020 fast alle Festivals, Märkte und Events entweder abgesagt, fanden online oder als hybrid Veranstaltung statt, also als kleiner Event gekoppelt mit einem Online Auftritt. Festivals hatten es etwas leichter, da das Streamen von Filmen technisch vergleichsweise einfach umzusetzen ist, während der Versuch, einen Koproduktionsmarkt mit all seinen Möglichkeiten des organisierten und unorganisierten Treffens sehr viel schwerer abzubilden ist und immer hinter einem Onsite Event zurücktreten muss.
Festivals – hybrid for ever?
Die Festivals, Märkte und Events, bei denen ich im letzten Jahr Einblicke gewinnen konnte, meisterten diese Aufgabe unterschiedlich gut. Besonders positive Beispiele dabei waren CPH Dox in Kopenhagen, das Dokfilm Festival in München und der World Congress of Science and Festival Producers. Wenn man die Krise als Herausforderung und Chance betrachtet, die bestehenden Limitationen zu verringern, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. So stellte das Dokfest München sein Online Angebot deutschlandweit zur Verfügung. Damit konnten Zuschauer auf dem Land gewonnen werden, wie auch in anderen deutschen Städten. Die Anzahl der verkauften Tickets stieg von ca. 40.000 in 2019 auf über 70.000 in 2020. Viele Festivals, Märkte und Events haben mir gesagt, dass sie darüber nachdenken, hybride Lösungen auch in der Zukunft beizubehalten. Einiges spricht dafür, dass hybride Modelle das Potential haben, bislang unerschlossene Zuschauergruppen und Teilnehmer zu erreichen, die Strahlkraft eines Festivals, Marktes und Events zu erhöhen und Filmen und Projekten zum Durchbruch zu verhelfen.
Die große Frage lautet: Kannibalisiert eine zeitlich begrenzte Online Auswertung eines Festivals eine anschließende Kinoauswertung? Das werden die Zahlen in der Zukunft zeigen, aber es erscheint nicht wahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass die mediale Aufmerksamkeit, die ein Festival zu schaffen in der Lage ist, den Filmen beim anschließenden Kinostart helfen dürfte. Allerdings setzt das voraus, dass zwischen dem Verleiher und dem Festival eine klare Absprache über Marketingaufwand, Beteiligung an den Erlösen und Filmmiete getroffen werden muss; und natürlich müssten auch die Förderungsrichtlinien entsprechend angepasst werden.
Bei den sogenannten Industry Events sieht es etwas anders aus. Sunny Side of the Doc und MIPTV hatten in 2020 Mühe, ihre Pitching Veranstaltungen erfolgreich abzubilden. Die MIPCOM ist bei dem Versuch, organisierte Gruppen- und Einzeltreffen abzubilden gescheitert, während der World Congress of Science and Factual Producers (WCSFP) das ganz gut hinbekommen hat. Online Repräsentationen von Firmen oder Ländern (Digital Booths) haben bei den von mir besuchten Märkten nicht wirklich funktioniert und informelle Treffen und Parties, die Events so wichtig machen, lassen sich auch nicht wirklich in das Digitale übertragen: „Nehmt euch einen Drink, setzt euch vor den Computer und nehmt an unserer Party teil“, ist nicht wirklich ein attraktives Angebot. Podiumsdiskussionen wurden in der Regel vorab aufgezeichnet und verloren dabei viel von der Spontaneität eines Live Events. Vorteilhaft war hingegen, dass diese Panels und Workshops anschließend einige Wochen noch abgerufen werden konnten. Viele Teilnehmer wünschen sich, dass das auch in der Zukunft beibehalten wird, wenn es wieder Onsite Events gibt, da man oft die Qual der Wahl hat zwischen mehreren interessanten, jedoch zeitgleich stattfindenden Panels und die Aufzeichnung dem Besucher die Möglichkeit gibt, vor Ort entspannter seine persönlichen Termine wahrzunehmen und nur zu ganz bestimmten Panels vor Ort zu gehen.
Ausblick auf 2021
Was wird bleiben, wenn wir eines Tagen wieder zur Normalität zurückkehren? Wird es ein ansatzloses „wie früher“ geben, oder werden Impulse aus der Corona Zeit in die Zukunft übernommen werden? Wie werden sich die Zuschauer verhalten? Wird es einen Ansturm auf Kinos und Festivals geben, weil man sich endlich wieder mit Anderen Treffen kann, oder wird die Szene von Zurückhaltung geprägt sein?
Bei vorsichtiger Einschätzung kann man sagen, dass voraussichtlich auch 2021 (vielleicht sogar auch 2022) die Festivals, Märkte und Events weitestgehend Online stattfinden werden. Vieles hängt von der Geschwindigkeit bei den Impfungen ab, ihrer Wirksamkeit gegen das Corona Virus und seiner Mutanten und den Einreisebestimmungen der Länder (Stichwort: Quarantäne). Manche Events und Festivals werden verschoben oder abgesagt werden, andere als kleine Hybridlösung stattfinden. Allerdings muss man unterscheiden zwischen Festivals, Märkten und Events. Während Festivals, sofern sie die Möglichkeiten der Krise erkennen, sogar Wachstumschancen haben, leben Events und Märkte von persönlichen Treffen und Kontakten. Daher wird das Interesse an ihnen dramatisch niedriger sein. Die erheblich zurückgegangenen Teilnehmerzahlen des Jahres 2020 bei Koproduktionsevents wie Sunny Side of the Doc, Hot Docs, Copro Israel,WCSFP und anderen dürften bei einer Online Ausrichtung noch weiter sinken.
Online-Müdigkeit
Auf der Seite der Dokumentarfilmprofessionals hat inzwischen eine Müdigkeit gegenüber Online Events eingesetzt, auch eine Ernüchterung, da diese meist in der Developmentphase eines Filmes nicht so effektiv sind. Die Qualität der Panels hat im letzten Jahr gefühlt nachgelassen, die No-Show Quote bei den einzelnen Events war hoch. Viele angemeldetet Teilnehmer der einzelnen Veranstaltungen, haben dann doch nicht bei dem Live-Event teilgenommen. Dadurch wurden Plätze blockiert, oder man fand weniger Partner, um sich auszutauschen. Aber man kannn auch beobachten, wie sich Märkte und TeilnehmerInnen langsam an die neue Situation anpassen: Die Sunny Side of the Doc (SSD) hat im Februar mit dem Global Pitch einen neu gestalteten Online Pitching Event stattfinden lassen, eine Art Test für die SSD im Juni, die hybrid stattfinden soll. 12 internationale Projekte wurden ausgewählt. 4 Produktionsfirmen konnten darüber in konkrete Gespräche mit einem Sender kommen, mit dem sie vorher noch keinen Kontakt hatten. Eine beachtliche Leistung. Die Erfolgsquote von 30% wäre selbst für einen, in Präsenz stattfinden Pitchingevent recht hoch.
Der Verkauf von Filmen kann offensichtlich besser auf internationale Präsenz-Märkte verzichten. Da im letzten Jahr viel weniger Filme gedreht wurden, war die Nachfrage von TV-Sendern und Plattformen nach bereits fertig gestellten Filmen groß, und manche Vertriebsfirma erzielte den höchsten Umsatz ihrer Firmengeschichte. Die Vertriebsfirmen und Verleiher hingegen, die im Kinomarkt operieren, wurden von den Lockdowns hart getroffen.
Festivals, die traditionell einen angeschlossenen Industry Market haben, werden diesen wohl auf kleiner Flamme weiterfahren, weil eine Absage dazu führen könnte, dass Sponsoren und finanzielle Unterstützer ein Jahr später neu gewonnen werden müssen. Entscheidendes wird davon abhängen, zahlreiche so genannte Decision Makers zu gewinnen, die auch bereit sind, allein auf der Basis eines Online Pitches in Projekte einzusteigen.
Verschärfte Konkurrenz
Es steht zu vermuten, dass das erste Festival/Event/Markt, welches wieder wie gewohnt Onsite stattfinden kann, einen sehr großen Zulauf erleben wird. Für 2021 und 2022 dürfte der Bedarf an neu produzierten Inhalten überproportional anwachsen. Sehr viele Projekte werden sich in den vielen langen Monaten bis dahin aufgestaut haben. Sie alle wollen finanziert werden, aber das bedeutet auch, dass die Konkurrenz schärfer sein wird, als in den vergangenen Jahren. Harte Zeiten also für ProduzentenInnen und Dokumentarfilmschaffende.
Anpassung der Förderrichtlinien
Die Kulturbranche ist von den Lockdowns besonders hart betroffen und der verschärfte internationale Konkurrenzkampf wird es zusätzlich erschweren, die finanziellen Verluste der Vergangenheit auszugleichen. Ohne Unterstützung durch Förderer oder den Staat mit seinen zahlreichen einschlägigen Organisationen wird es der deutsche Dokumentarfilm weiterhin schwer haben und viele Jahre brauchen, um sich wieder zu erholen. Daher ist es wichtig, dass die Förderrichtlinien an die Realität des „New Normal“ sowie an das geänderte Nutzerverhalten angepasst werden und DokumentarfimproduzentInnen vor allem in der schwierigen Entwicklungsphase ihrer Filme besser und dauerhafter unterstützt werden. Als erster Schritt müsste in der Projektentwicklungsphase die Reisekostenunterstützung deutscher Dokumentarfilmschaffender für Besuche von Festivals, Events und Märkten wieder hergestellt und intensiviert werden.
Das Verhalten der Konsumenten könnte sich nach Corona ändern. Sicher, es wird viele geben, die es begrüßen, endlich wieder ins Kino gehen zu können, aber in Deutschland war der durchschnittliche Kinobesuch bereits vor der Krise nicht sehr hoch - weniger als zweimal im Jahr. Es könnte also durchaus sein, dass Kinobesucher am Anfang noch etwas zögerlich sind, mit vielen anderen, wie früher, dicht an dicht in einem Saal zu sitzen. Hinzu kommt, dass viele Menschen 2020 erstmalig an das Streaming herangeführt wurden. Natürlich ist die Rezeption eines Filmes auf der Leinwand, nicht mit der im Wohnzimmer vergleichbar, auch wenn der TV-Bildschirm noch so groß sein mag, aber es ist bequemer, günstiger, die Auswahl an Filmen ist größer, und man muss nicht einen 30 minütigen Werbeblock vor dem Film ertragen, wie eben im Kino. Es besteht daher die Gefahr, dass Corona die Krise des Kinos weiter verschärfen wird. Ein Zurückkehren zum status quo ante erscheint nicht wahrscheinlich. Die Kinos müssen auf die Herausforderungen reagieren, sich anpassen und ihre Stärken ausbauen. Dabei darf die Gesellschaft sie nicht allein lassen. Kinos sind wichtige Orte künstlerischen und sozialen Lebens, die ein für uns so wichtiges Gruppenerlebnis möglich machen. Sie bieten mit der gemeinsamen Rezeption von Geschichten etwas, was das heimische Wohnzimmer nicht kann. Und im besten Fall lassen sie die Magie der bewegten Bilder entstehen, die uns seit über 120 Jahren so fesselt. Festivals wiederum sind in der so wichtigen Kinolandschaft so etwas wie das pumpende Herz. Sie filtern und wählen aus, präsentieren, schaffen Events und Erlebnisräume. Das Verhältnis zwischen ProduzentenInnen, Kinos, Festivals, Fernsehen und Streaming-Plattformen wird neu definiert werden müssen, und es wird aus meiner Sicht notwendiger sein denn je, die Unterstützungsmöglichkeiten in Deutschland den neuen Realitäten anzupassen, um dem deutschen Dokumentarfilm - und nicht nur ihm - auch international eine Zukunft geben zu können.
Björn Jensen arbeitet für einen führenden Weltvertrieb für immersive Kinofilme, ist freier Herstellungsleiter und betreut für German Documentaries Delegationen zu internationalen Festivals und Märkten.