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Inhaltsverzeichnis
VoD-Marktübersicht Deutschland für Dokumentationen
von Stefan Winterbauer
Der Siegeszug der Video-on-Demand-Dienste (VoD) in Deutschland scheint unaufhaltsam. Zum Markteintritt von Netflix in Deutschland im Jahr 2014 wurde der Streaminganbieter von TV-Verantwortlichen, zumindest offiziell, noch belächelt - das hat sich spätestens 2018 fundamental geändert. RTL hat gerade seinen Online-Service TVnow zum VoD-Streamingdienst umgebaut. ProSiebenSat.1 lässt seine bisherigen Angebote 7TV und Maxdome in einem neuen, ambitionierten Streaming-Dienst aufgehen, der in der zweiten Jahreshälfte 2019 als Joint Venture mit dem US-Konzern Discovery starten soll. Laut ProSiebenSat.1-Chef Max Conze soll dies die „führende Streaming Plattform Deutschlands" werden. Eine vollmundige Ankündigung, denn der VoD-Markt in Deutschland ist bereits mit großen und kleineren Playern recht dicht besetzt. Hier soll ein Überblick über den hiesigen VoD-Markt gegeben werden, inklusive einer Einschätzung über weitere Entwicklungen. Chancen und auch Limitierungen solcher Angebote spielen bei der Betrachtung auch eine Rolle.
Der VoD-Markt in Deutschland
Dominiert wird der VoD-Markt in Deutschland durch die beiden großen, globalen Player Amazon mit Prime Video und Netflix. Das Marktforschungsunternehmen Goldmedia hat ermittelt, dass Prime Video mit einem Marktanteil von 38,7 Prozent der meistgenutzte VoD-Dienst in Deutschland ist, gefolgt von Netflix mit einem Marktanteil von 34,1 Prozent. Die Zahlen bilden den Stand vom dritten Quartal 2017 ab und können sich mittlerweile verschoben haben, da Netflix eine sehr aggressive Wachstumsstrategie fährt. Aber schon die knappe Zweitplatzierung von Netflix hinter Prime Video ist bemerkenswert, da Prime Video bei allen Amazon Prime-Kunden automatisch inkludiert ist. Laut den Goldmedia-Zahlen landet die Pay-TV-Plattform Sky mit ihren diversen Streaming-Angeboten auf Platz drei mit einem Marktanteil von zusammengenommen 15 Prozent, gefolgt von dem ProSiebenSat.1-Angebot Maxdome mit einem Marktanteil von 6,5 Prozent. Die zahlreichen weiteren Angebote wie Pantaflix, realeyz oder Mubi spielen allenfalls als Special-Interest- oder Nischenanbieter eine Rolle. Marktverschiebungen sind zu erwarten, wenn Apple - wie angekündigt - erste eigene Inhalte über seine iTunes-Plattform anbietet. Außerdem hat die Telekom ihre Marke Entertain zu Magenta TV umgewandelt und damit eine Art Meta-Streaming-Plattform geschaffen, über die sowohl eigene Exklusiv-Inhalte als auch andere VoD-Dienste wie Netflix, Sky, Maxdome und Inhalte von ARD und ZDF zu sehen sind.
Mit der Comedy-Serie „Deutsch-Les-Landes“ gibt es bislang aber nur eine einzige eigene Magenta-TV-Serie, die zudem von der Kritik größtenteils negativ bewertet wurde. Außerdem wurde an Magenta TV kritisiert, dass Kund*innen die bereits über Rundfunkbeiträge gezahlten ARD- und ZDF-Inhalte, zum Beispiel „Tatort“-Folgen, praktisch „doppelt zahlen müssen“ (was man freilich in erster Linie ARD und ZDF anlasten muss, die entsprechende Lizenzvereinbarungen mit der Telekom getroffen haben). Die Nutzer*innenführung des Magenta-TV Angebots lässt zudem bislang noch sehr zu wünschen übrig und hinkt weit hinter den Standards von Prime Video und vor allem Netflix hinterher.
Wer Streaming sagt, meint meistens Netflix
Der US-amerikanische Anbieter Netflix hat es mit geschicktem Marketing, hochwertigen Inhalten und einer genial-einfachen Nutzer*innenführung geschafft, zu so etwas wie einem Synonym für Videostreaming zu werden. Der Konzern betreibt eine für US-Tech-Firmen typische Geheimniskrämerei was Zuschauer*innenzahlen betrifft. Man darf hierbei nie vergessen, dass sich das Geschäftsmodell eines VoD-Anbieters wie Netflix fundamental von dem eines klassischen TV-Senders unterscheidet. Während TV-Sender immer noch an Reichweiten-Messungen hängen, vulgo: der Quote, ist für VoD-Anbieter die Zahl bezahlter Abos entscheidend.
Der Unterschied ist größer, als dies auf den ersten Blick scheint, und das ist unter Umständen auch für Anbieter von Dokumentarfilmen, die mit Netflix ins Geschäft kommen wollen, bedeutsam. Netflix ist daran interessiert, eine möglichst große Bandbreite an Inhalten anzubieten, die auch Nischen-Interessen abdecken. Wenn Netflix eine Serie oder eben auch eine Dokumentation im Programm hat, die eine bestimmte Zielgruppe nirgends sonst findet, lohnt sich vielleicht für diese Zielgruppe schon ein Abo. Der große Rest des Programms wird dann einfach „mitgenommen“.
Darum widmet sich Netflix oftmals auch komplexen und teils obskuren Stoffen, die im linearen Mainstream-TV kaum eine Chance hätten, denn dort gilt immer noch das Diktat des Massengeschmacks.
Dokumentationen spielen für Netflix nicht die Hauptrolle, das Angebot ist stark auf fiktionale Serien und in jüngerer Zeit verstärkt auch auf Spielfilme zugeschnitten. Allerdings spielen Dokus durchaus eine gewichtige Nebenrolle und die Bedeutung von Dokumentationen für Netflix darf auch nicht unterschätzt werden. So gilt die True-Crime-Doku „Making a Murderer“ aus dem Jahr 2015, in der die beiden Filmemacherinnen Laura Ricciardi und Moira Demos einen alten Kriminalfall aus dem US-Bundesstaat Wisconsin über einen Zeitraum von zehn Jahren neu aufarbeiteten, als eine der erfolgreichsten Netflix-Produktionen überhaupt. Mit Sicherheit war „Making a Murderer“ die Netflix-Dokumentation, die die größte Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Doku-Serie ist mit echten Gerichtsaufnahmen und Videos von Zeug*innenbefragungen aufgemacht wie eine Krimiserie und bedient sich auch der aus fiktionalen Serien bekannten Dramaturgie. Dass es bei der Geschichte um den zu Unrecht 18 Jahre im Gefängnis gesessenen James Avery um einen echten Fall handelt, macht den ganz besonderen Reiz der Serie aus.
„Making a Murderer“ ist wegen der suggestiven und an fiktionale TV-Serien angelehnten Machart allerdings auch umstritten. Kritiker warfen den Filmemacherinnen vor, einseitig Partei für den Angeklagten Avery bezogen zu haben und einige Fakten zu stark betont und dafür andere nicht erwähnt zu haben. Tatsache ist wohl, dass bei solchen True-Crime-Formaten die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion fließend sind. Das macht einerseits den Reiz solcher Formate aus, macht sie aber gleichzeitig angreifbar. Eine ganz ähnliche Debatte gab es bei dem bekannten Podcast „Serial“, der ebenfalls einen alten Kriminalfall neu aufrollte und die jüngere Welle an True-Crime-Dokus im Jahr 2014 lostrat.
Die True-Crime-Welle, vor allem bei Podcasts und VoD-Anbietern, ist nicht tot. Vor Kurzem veröffentlichte Netflix eine zweite Staffel von „Making a Murderer“ mit weiteren Details zum aus Staffel 1 bekannten Fall. Außerdem veröffentlichte Netflix mit einigem Werbedruck die True-Crime-Serie „Der Gefangene“, die auf einem Buch des Bestseller-Autors John Grisham beruht und in „Making a Murderer“-Manier zwei alte Kriminalfälle in Oklahoma neu aufrollt.
Neben diesen - auch mit hohem Marketing-Aufwand promoteten - Produktionen gibt es sowohl bei Netflix als auch bei Prime Video noch zahlreiche weitere True-Crime-Dokus und Miniserien. Allein die Anzahl der True-Crime-Formate bei den beiden großen VoD-Anbietern spricht dafür, dass das Genre nach wie vor enorm populär ist. Aus deutscher Sicht sind solche Formate problematisch und kaum adäquat nachzuahmen. Allein, dass Film- und Ton-Aufnahmen in deutschen Gerichten nicht gestattet sind, macht es unmöglich hiesige Produktionen im Stil der US-True-Crime-Dokus zu produzieren. So ist es teils in der Tat erstaunlich, dass in solchen Filmen sogar echte Videomitschnitte von Zeug*innenbefragungen eingearbeitet sind - aus deutscher Sicht undenkbar!
Daneben ist Netflix auch bekannt für besonders aufwändige und teuer produzierte Dokumentation, die oft mit prominenten Namen verknüpft sind. Zu nennen wäre etwa der von Hollywood-Star Leonardo di Caprio produzierte Dokumentarfilm „Virunga“ über die Ranger im Virunga-Nationalpark im Kongo, dem letzten Lebensraum der vom Aussterben bedrohten Berggorillas. Der Film war 2015 für den Oscar nominiert. 2018 gewann die Netflix-Doku „Ikarus“ über das systematische Staatsdoping in Russland dann tatsächlich einen Oscar. Solche Auszeichnungen und Nominierungen sind für Netflix wichtig, da sie einen enormen Marketingeffekt haben und für Gesprächsstoff sorgen.
Das gilt auch für den Inhalte-Deal, den Netflix mit Ex-US-Präsident Barack Obama und seiner Frau Michelle geschlossen hat, die explizit auch Dokus produzieren sollen. Zu nennen wäre außerdem die Partnerschaft von Netflix mit dem US-Digitalmedium Buzzfeed, das unter dem Titel „Follow this“ insgesamt 20 Mini-Dokus mit einer Länge von 15 bis 20 Minuten über die Arbeit von Buzzfeed News bei Netflix veröffentlichte. Darunter ist mit „Intersex“ auch ein deutscher Beitrag, der die Berliner Buzzfeed-News-Reporterin Juliane Löffler bei ihrer Recherche zum Thema Intersexualität und Geschlechtsumwandlungen begleitet.
Buzzfeed und Netflix haben für diese speziellen Mini-Dokus den Begriff „Pop Docu" erfunden. Gemeint sind damit kurze, leicht konsumierbare Dokus mit Themen, die auf eine junge Zielgruppe zugeschnitten sind. Das Beispiel zeigt, dass Netflix durchaus offen ist, auch bei Dokumentationen, neue Wege zu gehen. Dabei schielt der Streaming-Riese aber stets auch auf ein großes Potenzial für Gesprächswert oder die Chance auf einen prestigeträchtigen Preis.
Das ist die eine Seite der Netflix-Dokumentation, praktisch die Hochglanz-Dokus. Natürlich zeigt Netflix aber nicht ausschließlich Dokumentationen mit Oscar-Potenzial, bekannten Namen oder spektakulären Kriminalfällen. In der Tat sind dies sogar eher die Ausnahmen, die allerdings die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Gros der bei Netflix verfügbaren Dokus besteht aus Lizenzware, u.a. auch viel Material der BCC, und unzähligen Dokus unterschiedlichster Qualität zu populären Themen wie Ernährung, Natur, Zweiter Weltkrieg, Sport, Tieren (etwa „Hunde“). Darunter findet sich auch viel Doku-Material, das eher reißerischen Charakter hat, wie etwa „72 Dangerous Animals: Latin America“. Allseits beliebt sind auch Dokus, die thematisch zu einem aktuellen Netflix-Serienhit passen. So veröffentlichte der Streaming-Anbieter zu der erfolgreichen Drogen-Kartellserie „Narcos“ eine ganze Reihe von Dokumentationen über die „echten Narcos“ rund um den kolumbianischen Drogenkönig Pablo Escobar, der auch die Hauptfigur der Serie ist. Die entsprechenden Dokus werden den Zuschauenden der fiktionalen Serie dann jeweils zum Weiterschauen vorgeschlagen. Audience-Flow im VoD-Stil.
Amazon Prime Video
Amazons VoD-Angebot Prime Video ist neben Netflix der zweite große Player auf dem deutschen Markt. Da der Streaming-Dienst bei Amazons Prime-Service inkludiert ist, sind alle Prime-Kund*innen automatisch auch Kund*innen von Prime Video. Laut Zahlen des Statistik-Anbieters Statista hatte Amazon Prime 2016 in Deutschland rund 17 Mio. Prime-Kund*innen. 2017 gab Amazon-Chef Jeff Bezos selbst die Zahl der Prime-Kund*innen weltweit mit über 100 Millionen an. Solche Zahlen sind freilich stets mit Vorsicht zu genießen. Nach einer anderen Angabe des britischen Marktforschungsunternehmens Ampere Analysis kam Prime 2018 in Deutschland auf 9,9 Mio. Abonnent*innen und Netflix auf 5,1 Mio. Abonnent*innen. Dass die Zahl der Prime Abos von 2016 zu 2018 von 17 auf knapp zehn Mio. gesunken sein soll, ist kaum vorstellbar. Vielmehr beruhen solche Angaben stets auf eigenen Zählungen, Analysen und Schätzungen der Statistik- und Marktforschungsunternehmen. Die Zahlen verschiedener Institute sind in der Regel nicht vergleichbar und auch insgesamt stets mit einer gewissen Zurückhaltung zu bewerten. Gesichert ist die Zahl von 137 Mio. Netflix Abonnent*innen weltweit im dritten Quartal 2018, davon rund 78 Mio. außerhalb der USA. Diese Zahlen wurden von Netflix selbst im Rahmen des Quartalsberichts kommuniziert.
Beachten sollte man auch die Diskrepanz zwischen den weiter oben erwähnten, von Goldmedia ermittelten Marktanteilen und den kolportierten Abonnent*innenzahlen von Netflix und Prime Video in Deutschland. Goldmedia ermittelt Marktanteile nicht nach Abo-Zahlen sondern nach Reichweitenzahlen, die auf eigenen Berechnungsmodellen beruhen. Dabei nutzt die Firma eigenen Angaben zufolge „technische Messungen der Anbieterbibliotheken“ und Nutzer*innenbefragungen. Inwieweit diese Analysen zutreffend sind, ist schwer von außen zu beurteilen.
Was man beim Vergleich zwischen Netflix und Amazons Prime Video stets im Hinterkopf haben sollte, ist, dass die beiden Anbieter ein unterschiedliches Geschäftsmodell verfolgen. Netflix bietet ein reines Flatrate-Modell an – Kund*innen zahlen einen Preis und erhalten dafür Zugriff auf das komplette Angebot. Bei Amazon dagegen können Filme und Serienfolgen analog zu Apples iTunes Store auch geliehen oder gekauft werden. Zudem hat Amazon 2017 Channels für Prime Video eingeführt. Nutzer*innen können gegen eine monatliche Abo-Gebühr einzelne thematische Video-Kanäle zusätzlich abonnieren. Dahinter steckt aber kein lineares Fernsehen, sondern ein Paket an speziellen VoD-Inhalten, die nicht im inkludierten Prime-Angebot enthalten sind.
Die Channels sind in die Nutzer*innenumgebung von Prime Video eingebunden. Die Preise für einen einzelnen Channel liegen zwischen 2,99 und 7,99 Euro pro Monat. Darunter befinden sich Sport-Kanäle wie Eurosport Player oder EdgeSport, spezielle Filmkanäle, etwa für Anime-Filme, Horror oder Independent-Kino. Auch andere Streaming-Anbieter, wie etwa realeyz oder Mubi betreiben auf der Prime-Plattform einen eigenen Channel. Mit Terra X, Sundance Now und Historama sind auch spezielle Channels für Dokumentationen vorhanden. Bisher werden die Prime Video Channels aber nicht mit exklusiven Inhalten bespielt, sondern enthalten Pakete mit Inhalten der jeweiligen Anbieter. Es handelt sich also lediglich um einen weiteren Vertriebskanal.
2016 hat Amazon mit Prime Video Direct zudem eine Self Publishing Plattform für Videoproduzent*innen ins Leben gerufen. Produzent*innen, die teilnehmen, können sich entscheiden, ob sie ihre Inhalte über Prime Video vertreiben und Nutzungsgebühren auf Basis gestreamter Stunden erhalten wollen oder, ob sie Videos über den digitalen Amazon Video Shop zum Leihen oder Kaufen anbieten. In den USA können Videos zusätzlich mit Werbung oder im Paket als Zusatz-Abonnement vermarktet werden. Das Programm führt seit seiner Einführung allerdings eher ein Nischendasein.
Während der Verkauf von Abos und Inhalten für Netflix und andere VoD-Dienste die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle ist, ist Prime Video für Amazon nicht zuletzt auch ein Vertriebs- und Marketinginstrument für den Verkauf von Prime-Mitgliedschaften, die ja über das VoD-Angebot weit hinausgehen. 2018 veröffentlichte die Nachrichtenagentur Reuters interne Dokumente, die zeigten, wie Amazon mit Hilfe von Prime-Video-Algorithmen an der Gewinnung von Neukund*innen arbeitet.
Dabei wird gemessen, welche Video-Inhalte Neukund*innen bei Prime zuerst streamen, sobald sie eine Mitgliedschaft abgeschlossen haben; das sind dann so genannte First Streams. Dahinter steckt die Annahme, dass genau dieser Inhalt der Grund für die Prime-Mitgliedschaft war. Danach legt Amazon die Produktionskosten der Serie auf die Anzahl der First Streams um und errechnet einen Wert, der angibt, wie teuer es war ein neues Prime-Mitglied mit dieser Serie zu gewinnen. Je niedriger der First-Stream-Wert ist, desto besser für Amazon. Nach dieser Berechnung besonders gut abgeschnitten hat die Auto-Reihe „The Grand Tour“ mit dem Team der früheren BBC-Reihe „Top Gear“. Die Show hatte laut den Reuters zugespielten Unterlagen über 1,5 Mio. First Streams weltweit. Rechnet man die Produktionskosten dagegen, so hat Amazon jede*r dieser Neukund*innen 49 US-Dollar gekostet.
Am anderen Ende der Skala landete die Serie „Good Girls Revolt“ über Geschlechterdiskriminierung in einem Medien-Newsroom. Die Serie bekam zwar gute Kritiken und mit 1,6 Mio. Zuschauer*innen in den USA auch eine respektable „Quote“, allerdings erzielte sie lediglich 52.000 First Streams. Bei Produktionskosten von 81 Mio. Dollar bedeutet dies Akquisitionskosten pro Prime-Neumitglied von 1.560 Dollar. Die Konsequenz: Amazon hat die Reihe nach der ersten Staffel eingestellt. Ein gutes Beispiel dafür, dass „die Quote“ in der VoD-Welt nicht länger die entscheidende Messgröße für Erfolg ist.
Eine primär unterhaltende Reihe wie „The Grand Tour“ wird bei Prime Video übrigens auch unter „Dokumentationen“ geführt. Das Doku-Angebot bei Amazon ist dabei weniger auf renommierte Preise und Leuchtturm-Produktionen ausgelegt wie bei Netflix. Auch investiert Amazon deutlich weniger in eigenproduzierte oder exklusiv eingekaufte Dokumentationen. Es findet sich im Angebot der übliche Mix aus Naturfilmen (z.B. „Wildes Skandinavien“, „Expeditionen ins Tierreich“, Sport- und Historien-Dokus, sowie potenziell reichweitenstarker Ware wie „Secret Diary of a Call Girl“). Selbst produzierte Amazon Prime Dokus sind etwa „American Playboy - The Hugh Hefner Story“, „Le Mans - Racing is Everything“ oder „Grand Prix Driver“. Der Verdacht liegt nahe, dass Amazon nach dem Erfolg von „The Grand Tour“ verstärkt Auto- und Motorsport-Dokus ins Programm genommen hat.
Generell wirkt das Dokumentations-Angebot bei Amazon Prime etwas weniger reichhaltig als bei Netflix, es gibt weniger herausragende Produktionen und mehr Massenware. Außerdem fehlt der deutliche Schwerpunkt auf True-Crime-Formaten, den Netflix hat.
Weitere VoD-Anbieter
realeyz
Eine interessante Alternative zu den beiden VoD-Größen Netflix und Amazon in Deutschland ist die Berliner Plattform realeyz, die sich auf Arthouse und Independent-Filme spezialisiert hat. Hier sind durchaus auch anspruchsvolle Dokumentationen jenseits des Mainstreams zu sehen, darunter auch viele Preistragende eher kleinerer und mittlerer Festivals, wie etwa „6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage - die Morde des NSU“. Primär auf Unterhaltung zielende Natur-, Sport-, Food- oder Historien-Dokus, wie sie bei Prime Video und Netflix massenhaft zu finden sind, zeigt realeyz nicht. realeyz ist ein Projekt der Firma eyzmedia, die technische Dienstleistungen rund um Video on Demand anbietet. Das Konzept von realeyz ist, dass jeden Tag ein neuer Film in der Originalfassung hinzugefügt wird. Die Filmbibliothek umfasst nach eigenen Angaben derzeit mehr als 1.700 Filme. Die Plattform kooperiert mit Filmhochschulen und Independent-Verleihen. Realeyz wird zudem von dem EU-Programm Creative Europe Media finanziell gefördert.
Eyzmedia, die Firma hinter realeyz, hat außerdem Ende 2018 die deutsche Version des französischen VoD-Anbieters UniversCiné an den Start gebracht und technisch umgesetzt. UniversCiné existiert in Frankreich schon seit zehn Jahren und ist spezialisiert auf Arthouse-Filme. Die Plattform bietet auch einen umfangreichen Katalog anspruchsvoller Dokumentationen mit künstlerischem und/oder sozialem/politischem Anspruch. Das Angebot funktioniert nicht nach einem Abo-Modell, sondern Nutzer*innen können sich einzelne Titel leihen oder kaufen. Bei geliehenen Titeln hat man 30 Tage Zeit zum Anschauen, wurde der Film einmal gestartet, steht er 48 Stunden zur Verfügung.
Mubi
Eine ganz ähnliche Nische wie realeyz bedient Mubi. Dieses VoD-Angebot ist spezialisiert auf Kultfilme, Klassiker, Independent- und Arthouse-Filme sowie Festival-Beiträge. Das Besondere bei Mubi ist, dass hier sowohl bei Spielfilmen als auch bei Dokus tatsächlich viele bekannte Klassiker zu sehen sind. Bei den Dokumentationen etwa „Woodstock“ aus dem Jahr 1970, „War Photographer“ von 2001 oder Werner Herzogs „Die Höhle der vergessenen Träume“ aus dem Jahr 2010. Mubi richtet sich ganz klar an Filmliebhaber*innen und zeigt ein anspruchsvolles Programm mit starkem Fokus auf preisgekrönte Festival-Beiträge und von der Kritik gelobte Filme. Genau wie realeyz auch, wird Mubi von Creative Europe Media finanziell gefördert. Eine Redaktion empfiehlt hier stets einen Film des Tages, der dann für jeweils 30 Tage zur Verfügung steht. Ähnlich wie bei den großen Anbietern auch, verändert sich die Filmbibliothek mit der Zeit, d.h. Lizenzen laufen aus, Filme fliegen aus dem Sortiment, neue kommen dazu. Weder realeyz noch Mubi haben eigene Produktionen im Angebot.
Pantaflix
Pantaflix ist sowohl ein VoD-Anbieter als auch die Produktionsfirma von Matthias Schweighöfers Filmen. Der Schauspieler ist selbst an Pantaflix beteiligt. Hier gibt es auch Hollywood-Ware zu sehen, allerdings in geringerem Umfang als bei den großen Playern Prime Video und Netflix. Ungewöhnlich ist das Geschäftsmodell von Pantaflix, das dem von Apples App Store ähnelt: Filmproduzent*innen erhalten 75 Prozent der mit ihrem Film generierten Einnahmen, 25 Prozent behält die Plattform. Normalerweise behalten die VoD-Plattformen den Löwenanteil der Einnahmen und reichen einen deutlich kleineren Prozentsatz an die Produzent*innen weiter.
Ungewöhnlich ist auch, dass Pantaflix kein Abomodell anbietet, sondern transaktionsbasiert funktioniert. Das bedeutet, der*die Zuschauer*in leiht jeden Film einzeln aus. Auch die Preise variieren stark, und zwar zwischen 99 Cent und 19,99 Euro pro Film. Die Preisgestaltung bleibt hier auch weitgehend den Produzent*innen überlassen. Die meisten Filme orientieren sich mit Preisen zwischen 2,99 und 4,99 Euro an dem „gelernten“ Preisgefüge bei Prime Video oder iTunes. Leiht ein*e Nutzer*in einen Film aus, hat er oder sie 30 Tage Zeit, den Film anzuschauen. Wird der Film gestartet, kann man ihn innerhalb von 48 Stunden anschauen. Auch hier orientiert sich Pantaflix an den marktüblichen Konditionen.
Pantaflix ist seit 2015 an der Börse notiert und erlebt dort eine durchaus wechselvolle Geschichte. Anfänglich gehypt und mit starken Kurszuwächsen gesegnet, häufen sich in jüngerer Zeit die Probleme. So musste Pantaflix für 2018 eine Gewinnwarnung herausgeben, da sich zwei Filmprojekte verschieben und erst in 2019 in der Bilanz wiederfinden. Die Börse reagierte mit deutlichen Kursverlusten.
Was das Angebot an Dokumentationen betrifft, rangiert Pantaflix zwischen den großen VoD-Plattformen und den Nischen-Anbietern. Die Plattform bietet eine große Zahl an durchaus anspruchsvollen und auch bekannten Dokus (z.B. „Die Bucht“ oder die Drohnen-Doku „National Bird“). Massenkompatible Dokus aus den sattsam bekannten Themenfeldern Sport, Natur, Food oder Geschichte fehlen allerdings weitgehend.
Ausblick
Laut der Studie „Pay-VoD in Germany – Forecast 2018-2023“ von Goldmedia verfügten Ende 2017 bereits 18 Prozent aller deutschen Haushalte über mindestens einen kostenpflichtigen Video-Dienst, viele haben sogar zwei Dienste abonniert, da häufig das bei Prime inkludierte Amazon-Video-Angebot zusätzlich genutzt wird. Die Gesamterlöse (brutto) sollen laut der Goldmedia-Studie Ende 2017 bei 1,1 Mrd. Euro gelegen haben. Die Branchenbeobachter schätzen, dass sie bis 2023 auf 2,5 Mrd. Euro steigen werden. Wie immer gilt: Solche Zahlen mit Vorsicht genießen!
Amazon und Netflix dürften ihre herausragenden Rollen behalten. An die Finanzkraft und Marketingpower der beiden Großen reicht derzeit kein anderer Anbieter ansatzweise heran.
Allerdings werden mit den angekündigten neuen VoD-Diensten der Filmstudios Disney und Warner mindestens zwei weitere finanzstarke internationale Player hinzukommen. Der Disney-Dienst wird Disney+ heißen und neben den ganzen Animationsfilmen des Studios auch die Star-Wars-Filme und Marvel-Superheld*innenfilme enthalten. Warner kann u.a. mit den „Harry Potter“- und „Herr der Ringe“-Filmen punkten. Beide Studios stehen nicht unbedingt für hochwertige Dokumentation, es ist zu erwarten, dass sich diese neuen VoD-Anbieter zunächst auf ihre Spielfilm- und Serien-Highlights konzentrieren werden.
In Deutschland steht 2019 zudem der eingangs bereits erwähnte Start des VoD-Joint-Ventures der ProSiebenSat.1-Gruppe und Discovery an. Das bisherige ProSiebenSat.1-VoD-Angebot Maxdome wird in der neuen Plattform aufgehen. Und schließlich hat auch Apple angekündigt in Kürze mit Eigenproduktionen im VoD-Markt von sich reden machen zu wollen. Ob all diese Angebote auf Dauer Bestand haben werden, muss sich zeigen. 2016 schon hat der französische Medienkonzern Vivendi seine deutsche VoD-Plattform Watchever dichtgemacht. Gerade bei kleineren Angeboten, die keine erkennbare Differenzierung zu den großen Platzhirschen haben (etwa Videoload, Videobuster, Rakuten TV), könnte es eine Marktbereinigung geben. Bei den Angeboten, die sich auf Independent-Produktionen spezialisieren, scheint diese Gefahr weniger gegeben, da diese mit deutlich geringeren Lizensierungskosten arbeiten und zudem teils öffentliche Fördergelder erhalten.
Inwieweit sich die Telekom mit Magenta TV durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Bislang hatte der Konzern kein glückliches Händchen bei der Etablierung von Medien-Plattformen. Deutliche Mängel beim Nutzer*inneninterface und schlechte Kritiken für die erste und bislang einzige Eigenproduktion „Deutsch-Les-Landes“ lassen zudem eine gewisse Skepsis gerechtfertigt erscheinen.
Autor
Stefan Winterbauer ist Chefredakteur bei MEEDIA, einem Onlinebranchendienst zu Medienthemen.